Arzt, Musiker und Philosoph

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Mehr Sympathie, mehr Selbstvertrauen, mehr Reha. Prof. Jürg Kesselring sagt, was MS-Patienten neben Medikamenten genauso nötig haben.

Er ist ein aussergewöhnlicher Arzt und Mensch. Begnadeter Musiker und Dichter zugleich. Er hat die Gabe, zu beobachten. Dinge aufzunehmen, sie einzuordnen. Nimmt auch die Zwischentöne wahr und weiss, dass in ihnen manch ein Schlüssel verborgen liegt, der die Türen zum Innern seines Gegenübers sachte öffnet. Prof. Kesselring findet Zugang zu den Menschen, weil er ihnen zuhört. Erfährt, was sie bewegt, weil er ihnen auf Augenhöhe begegnet. Er sieht Chancen, welche die Krankheit mit sich bringt, ohne deren Hindernisse auszublenden. Er schafft neue Perspektiven. Beschreibt manchmal das, was der Patient selber noch gar nicht von sich weiss. Ein Dolmetscher im Umgang mit der Krankheit. Darin steckt die ganze Kraft seines Wesens: Er nimmt sich Zeit für die Menschen. Zeit, die in der Hatz des normalen Alltags zu entrinnen drohte, aber jetzt den Moment zu überschwemmen wagt, weil sie durch die Krankheit eine andere Bedeutung erlangt hat.

Kaum einer spürt so gut, was MS-Patienten fehlt, was sie nach der Diagnose alles brauchen. Natürlich brauchen die einen eine Schubbehandlung, natürlich brauchen die anderen immunmodulierende Therapien. Und natürlich ist auch Prof. Kesselring froh um jeden medizinischen Fortschritt in der MS-Behandlung. Aber was er in seiner Klinik in Valens anzubieten hat, ist mehr als die Summe aller medizinischen Hilfsmittel: es ist die Hingabe für seine Patienten. Denn in erster Linie sind sie bei ihm Mensch.

Tausende von MS-Patienten hat der Professor schon gesehen, tausende von Schicksalen begleitet. Und letztlich ist er es, der einem Medikament gleich auf sie wirkt, sie das Schwimmen in neuen Gewässern lehrt. Sich nicht ergeben und untergehen, sondern mit neuer Einstellung an der Wasseroberfläche bleiben. Das ist seine Mission. Aktiv etwas tun, um der malignen Ungewissheit die Lähmung zu entziehen. Mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen. Die Einstellung zur Krankheit und vielleicht zum ganzen Leben ändern. Man muss seine Lebensziele überdenken, die Berufswahl vielleicht neu ausrichten. Sich von Zeit zu Zeit selber in Frage stellen, in guten wie in schlechten Tagen. Das täte jedem Menschen gut. MS bedeutet Veränderung. Aber erfordert nicht das Leben ohnehin von uns allen Veränderung? Prof. Kesselring verharrt nicht bei den vordergründigen, neurologischen Defiziten, welche die Krankheit verursacht. Er weiss, wie anpassungsfähig das menschliche Gehirn ist, wie es sich immer wieder neu vernetzen kann. Und welche immensen innerlichen Kräfte und Energien ein Mensch hat.

«Solange die Medikamente nicht besser wirksam sind, ist die wichtigste Grundlage in der MS-Behandlung noch immer die Rehabilitation.» Umdenken und die Einstellung zur Krankheit und zum Leben ändern. Sich aktiv beteiligen und nicht auf eine passive Heilung hoffen. Üben, üben, üben. Jeden Tag. Der Professor ist nicht nur Arzt, sondern auch Musiker. Er spielt Cello, steht persönlich in Kontakt mit grossen Musikern dieser Zeit und weiss um die Kunst des Übens. «Man gewinnt mehr Feinmotorik und Balance. Die Griffe immer wiederholen, nicht aufgeben. Das gilt für alle Menschen, ob mit oder ohne MS. Und es macht Hoffnung. Die Schritte sind klein, die Resultate aber grossartig.»

Sportmedizin und Psychologie treffen im Reha-Modell von Valens aufeinander. Und die Empathie des Chefarztes. Die Angst nehmen und das Selbstbewusstsein stärken. Patientenorientiert, weil die Geschichte des Patienten und seines Gehirns vorwärts und rückwärts eine Rolle spielt. Woher komme ich, wohin möchte ich? «Uns liegt daran, seine Selbstständigkeit zu bewahren und zu erhalten. Training bedeutet auf motorischer Seite Muskelkraft, Ausdauer, Gelenkbeweglichkeit; auf kognitiver Seite nutzt man die Regenerationsfähigkeit der Nervenzellen. Die Patienten staunen, wie viel besser es ihnen danach geht. Ihre Gehstrecke lässt sich meist schon nach drei Wochen verdoppeln bis verdreifachen. Aber nur, wenn sie richtig angeleitet werden. Und wenn sie realistische Ziele haben.»

Da meldet sich der Philosoph in Prof. Kesselring und fragt: «Muss denn im Leben tatsächlich immer alles in Maximalgeschwindigkeit ablaufen oder kann es nicht auch eine Qualität sein, die Dinge mit etwas mehr Ruhe und Gelassenheit anzugehen?» Er greift zur Feder und schreibt seine Gedanken in Gedichtform nieder. Erzählt von einem Schutzengel, der ihn daran hinderte, im Libanon rechtzeitig und fahrplanmässig an einem vereinbarten Ort zu sein. Kriegerische Gestalten hatten seinen Bus aufgehalten, so dass er nicht rechtzeitig am Zielort ankam. «Doch wie ich zu spät dann mein Ziel noch erreichte, bot sich ein Anblick, bei dem ich erbleichte: Ich hörte es selbst aus des Hausherren Munde, dass eben zu jener vereinbarten Stunde, gerade hier in seinem Geviert, eine tödliche Bombe sei explodiert.»

Seit jeher beschäftigt sich der Professor mit derart philosophischen Fragen, findet durch Gespräche und Beobachtungen immer näher zu den Menschen und ihren wahren Bedürfnissen. Sieht ihre Anstrengungen und ist beeindruckt von ihrer gewaltigen Leistung, die sie in der Therapie erbringen. Erkennt die Erfolge, die so manches Streben nach Glück relativieren. Gerade dann, wenn Gedanken über die grossen Zusammenhänge dieser Welt an alten Denkmustern rütteln und die Frage nach dem Sinn selbst die Grenzen der 100 Milliarden Neuronen vor Augen führen, die das Hirn ausmachen.

Da bekommt die Abkürzung MS eine ganz neue Bedeutung. «Mehr Sympathie» im Umgang mit der Krankheit, wünscht er sich. Sympathie im Sinne von Mitgefühl. Mitfühlen, ohne überheblich zu sein. Und «mehr Selbstvertrauen» für die Betroffenen. «Das ist wichtig und es gilt eigentlich für uns alle. Selbstvertrauen nicht als Überheblichkeit, sondern als Vertrauen in sich selber.»