Das Leben ist nicht vorbei

«In den nächsten 10 bis 15 Jahren ist kein therapeu­tischer Durchbruch zu erwarten. Umso wichtiger sind ­Massnahmen, um Menschen mit Demenz ein gutes ­ Leben zu ermöglichen», sagt Stefanie Becker, Geschäftsleiterin der Alzheimervereinigung.

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Kennen Sie Menschen mit Alzheimer?

Stefanie Becker: Ich habe mein Studium der Gerontologie mit der Arbeit als angelernte Pflegehilfe in einer Langzeitpflegeeinrichtung finanziert. Daher ist mir das Erkrankungsbild schon länger persönlich bekannt. Auch im Rahmen meiner Forschungsarbeiten hatte ich Kontakt mit Menschen mit Demenz. In meinem persönlichen Umfeld habe ich es vor allem über die Erkrankung des Vaters meiner besten Schulfreundin und aus Erzählungen über meinen Schwiegervater erlebt, den ich leider nicht mehr persönlich kannte. Ganz aktuell sind die Begegnungen mit Menschen mit Demenz, die bei verschiedenen Veranstaltungen der Krankheit in der Öffentlichkeit ein Gesicht geben. Sie zeigen deutlich, dass trotz einer Diagnose das Leben noch lange nicht vorbei ist und sie sehr wohl auch noch gut für sich selbst sprechen können.

Was berührt Sie am meisten bei diesen Begegnungen?

Die Kraft und Stärke, mit der die Menschen mit Demenz, aber auch ihre Angehörigen, ihren Alltag meistern. Am eindrücklichsten ist für mich zu sehen, wie sensibel und individuell die Menschen auch im fortgeschrittenen Stadium einer Erkrankung reagieren, wenn man angemessen mit ihnen umgeht. Da wird mir jedes Mal wieder klar, dass auch bei schwerer Demenz Ausdruck von Gefühlen, von Wohlbefinden oder Missfallen möglich ist. Man darf sich deshalb nicht ausschliesslich auf die sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen stützen.

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Stefanie Becker, Geschäftsleiterin Alzheimervereinigung

Was würden Sie selbst tun, wenn Sie eines Tages mit dieser Diagnose konfrontiert würden?

Ich würde sicher meinen nächsten Familien- und Freundeskreis über die Diagnose informieren. Denn nur, wenn sie die Krankheit und ihre Symptome verstehen, können sie in Zukunft auch mich verstehen. Wichtig wäre mir auch, gleich von Anfang an für meine Familie zu klären, wo und wie sie zukünftig Entlastung finden können, wenn die Symptomatik fortschreitet. Ich würde mich bei der Alzheimervereinigung in meinem Wohnkanton melden und mich nach für mich passenden regional verfügbaren Angeboten und Unterstützungsmöglichkeiten erkundigen. Die Diagnose hätte wahrscheinlich die Memory Clinic gestellt. Mit ihr würde ich schauen, wie mit der Kombination aus medikamentösen und psychosozialen Möglichkeiten ein für meine spezielle Situation passender Unterstützungsplan erstellt werden könnte. Wichtig wäre mir auch mit meinem Arbeitgeber zu sprechen, um Möglichkeiten einer weiteren und angemessenen Beschäftigung zu diskutieren, denn – und da bin ich mir ganz sicher – die Diagnose würde für mich nicht bedeuten, mich aus meinem bisher sehr aktiven Leben komplett zu verabschieden. Im Gegenteil, ich würde sehr gerne solange wie möglich eine meiner Symptomatik angemessene Beschäftigung ausüben.

Können Sie sich vorstellen, dass die Erinnerung an alles unwiderruflich erlischt und Sie Ihren Angehörigen nur noch zur Last fallen? Oder ist die Bezeichnung «zur Last fallen» eben genau eine unwürdige Stigmatisierung?

Eine Last ist es für die Angehörigen vor allem dann, wenn sie selbst keine Entlastung haben. Daher wäre dies eben auch eines der ersten Themen mit meiner Familie. Wenn es genügend und geeignete Möglichkeiten der Entlastung für die Angehörigen gibt, dann müsste ich mir darum auch keine Gedanken machen.

Wo steht die Demenzforschung heute? Ist in absehbarer Zeit ein Durchbruch zu erwarten?

Bisher ist es nicht gelungen, im Rahmen von grundlagenwissenschaftlichen Studien eine wirkliche Hoffnung auf Heilung der Demenzerkrankungen zu finden. Auch die Expertinnen und Experten aus Medizin, Genetik, Biochemie usw. sehen in den kommenden 10 bis 15 Jahren keinen Durchbruch. Umso wichtiger ist es, sich mit den nicht-medikamentösen Einflussmöglichkeiten stärker zu beschäftigen, weil sie es sind, die den Menschen mit Demenz heute und auch in den kommenden 20 bis 30 Jahren ein gutes Leben mit der Erkrankung ermöglichen.

www.memo-info.ch

www.alz.ch

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 23.06.2016.

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