Der Schrei nach Hilfe

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Vollbringen Bypass-Operationen Wunder? Nein, wenn man sich die Geschichte einer verzweifelten Leserin vor Augen führt.

„Ich habe im Jahr 2009 einen Magenbypass machen lassen. Danach nahm ich 40 Kilo ab, in letzter Zeit aber wieder 10 Kilo zu. Ich möchte so gern wieder abnehmen. Für mehr Bewegung fehlt mir jede Motivation. Ich habe keinen Willen und keinen Lebensmut mehr, sondern bin psychisch total am Ende. So nehme ich nur noch mehr zu. Was soll ich nur tun? Ich habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Bitte helfen Sie mir!“

Bei mehreren Gesprächen mit der Leserin fällt auf, dass sie in der Kindheit unter einer schweren Vernachlässigung und unter seelischer und womöglich auch körperlicher Misshandlung zu leiden hatte. „Ich hatte es immer schwer im Leben. Schon in der Familie mit meinen sechs Geschwistern war ich immer nur das fünfte Rad am Wagen und an allem schuld, wenn nur irgendetwas schief ging, und bekam immer auf den „Grind“. Schon als junges Mädchen sei sie schwanger geworden, worauf sie früh geheiratet habe. Die Ehe sei eine Katastrophe gewesen und hielt nur gerade ein halbes Jahr. Kurz nach der Scheidung unternahm sie einen Suizidversuch mit Tabletten und überlebte ihn nur, weil ein Kind in der Nacht laut nach ihr geschrien habe. Heute ist sie alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und hat ein 60 Prozentpensum als Küchenhilfe.

Übergewichtig sei sie schon seit ihrer Kindheit. Richtig schlimm sei es nach der Scheidung geworden. Das Übergewicht hänge ganz klar mit ihrer schweren Lebenssituation zusammen. „Je schlechter es mir ging, desto mehr ass ich.“ Wenn sie heute zum Arzt und zur Ernährungsberaterin gehe, werde sie immer gleich auf die Waage gestellt und von beiden stark unter Druck gesetzt, um wieder abzunehmen. Das sei nicht der richtige Weg, um ihr zu helfen, sondern mache sie nur noch verzweifelter.

Operationen gegen massives Übergewicht erleben einen Boom. Von einer Heilung der Adipositas und ihren Folgekrankheiten ist die Rede, und vom aussichtlosen Unterfangen, mit einer Umstellung des Lebensstils abzunehmen. Meine Erfahrung mit Dutzenden von verzweifelten „Opfern“ der Adipositas-Chirurgie zeigt: Diese Behandlung hat auch eine Kehrseite. Zu bedenken ist einmal, dass ein Magenbypass ein lebensverändernder Eingriff ist und eine normale, genussorientierte Ernährung nahezu verunmöglicht.

Weshalb nehmen viele Operierte nach einem anfänglich starken Gewichtsverlust wieder zu? Weil niemand die Probleme angeht, die hinter dem Übergewicht stecken und die Hilferufe ernst nimmt. Unser Fall führt uns das drastisch vor Augen. Weshalb tauschen viele übergewichtige Menschen nach einer Magenbypass-Operation eine Sucht gegen die andere aus oder entwickeln Depressionen? Weil wir emotionale Esser sind. Weil es naheliegend ist, Emotionen mit grossen Essensmengen zu verarbeiten. Weil negative Erlebnisse, eine schwere Kindheit, eine beruflich belastende Situation, eine unbefriedigende Partnerschaft nicht mit einem chirurgischen Eingriff aus der Biografie eliminiert werden können. Weil nahezu jeder Patient mit einem massiven Übergewicht über zu wenig taugliche Möglichkeiten verfügt, mit belastenden Situationen und Gefühlen konstruktiv und lösungsorientiert umzugehen.

Solche Menschen noch stärker in die Mangel zu nehmen, hilft nicht weiter. Hier nützt eine „erneute, engmaschige Betreuung durch die Ernährungsberaterin“ gar nichts, wie es auf der Webseite eines führenden Adipositas-Zentrums heisst. Den Betroffenen muss schrittweise mehr Handlungskompetenz zugespielt werden. Ein reflektierter Umgang mit Emotionen und Alltagsbelastungen sind genauso erforderlich wie eine schrittweise Umstellung der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten. Gemeinsam werden dabei kleine Etappenziele definiert und jeder noch so kleine Erfolg festgehalten. So erfahren die Betroffenen, dass sie selber nicht mehr länger nur Opfer sind, sei das Opfer ihres krankhaften Essverhaltens oder jenes des Chirurgen und der Ernährungsberaterin, sondern dass sie endlich handelnde Personen sind. Dieser Weg ist zwar viel weniger spektakulär als eine Operation, aber langfristig lohnender und erfolgreicher.