Die Krankheit mit den tausend Gesichtern

Susanna Möschberger und Stéphane Barras: Beide haben Multiple ­Sklerose. Sie sitzt im Rollstuhl und ist pflegebedürftig. Ihm sieht man die Krankheit nicht an, obwohl ihn täglich Schmerzen plagen.

MS Moeschberger

Schon mit 26 hatte Susanne Möschberger ihren ersten Schub. «Ich stand eines Tages am Morgen auf, obwohl ich krankgeschrieben war. Ich wollte es allen beweisen, dass es noch geht, aber ich schaffte es nicht.» Weitere Schübe folgten im Abstand von rund fünf Jahren. Lange wehrte sich die Heilpädagogin, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Tag für Tag schleppte sie sich zur Arbeit, bis sie einen Zusammenbruch erlitt. «Ich musste mir eingestehen, dass ich mich von meinem bisherigen Leben verabschieden muss. Vom selbständigen Wohnen, von der Erwerbstätigkeit, von Zukunftsplänen.» Mittlerweile lebt die 51-jährige MS-Betroffene in einer betreuten Wohngemeinschaft und arbeitet hart an sich, um die wenigen verbliebenen Fähigkeiten zu erhalten. Etwa, wenn sie mit viel Mühe mit einem Finger an einer Geigenseite zupft oder die Seite eines Buches umblättert. «Denken und sprechen kann ich noch und ich gebe nicht auf.»

Ständige Angst vor dem Verlust der noch vorhandenen Mobilität

Im Gegensatz zu Susanna Möschberger ist Stéphane Barras nicht auf den Rollstuhl angewiesen. Trotzdem hat er mit Einschränkungen zu kämpfen. Er war einst ein passionierter Sportler und Motorradfahrer, leitete den technischen Bereich eines Spitals und genoss das Leben mit seiner Familie. 2001 wurde bei ihm nach Jahren mit diffusen gesundheitlichen Störungen MS diagnostiziert. Seit zwei Jahren steht sein Motorrad unberührt in der Garage. Damals konnte der 49-Jährige mit der Maschine noch kleine Runden im Quartier drehen. Mittlerweile reicht die Kraft nicht mehr, da die Muskeln des einst sportlichen Mannes wegen der MS laufend abnehmen. Zudem leidet er immer mehr unter permanenten Schmerzen, starken spastischen Anfällen, häufigen Erschöpfungszuständen und einer ständigen Angst vor dem Verlust der noch vorhandenen Mobilität. Die fortschreitende Erkrankung beeinflusst den Alltag des Wallisers, seiner Ehefrau und seiner zwei Töchter: «Früher waren wir zu viert. Heute, mit der MS, sind wir zu fünft.»

Multiple Sklerose ist eine sehr unterschiedlich verlaufende chronische Erkrankung des Nervensystems. An verschiedenen Stellen im Gehirn, an den Sehnerven und im Rückenmark treten entzündliche Veränderungen auf, die nach dem Abheilen Narben, sogenannte Plaques hinterlassen. Dadurch kann die Erregungsleitung betroffener Nervenstränge gestört oder sogar unterbrochen werden. Häufige Symptome sind Taubheits- oder Kribbelgefühle in den Extremitäten, Schwierigkeiten beim Gehen und mit dem Gleichgewicht sowie Seh- oder Blasenstörungen. MS tritt meist schubweise auf. In dieser akuten Krankheitsphase versucht man, mit einer Schubtherapie die Entzündung möglichst rasch zum Abheilen zu bringen. Zudem gibt es heute Langzeittherapien, die das Abwehrsystem modulieren und den Verlauf einer MS mildern oder verlangsamen können. Eine MS beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und betrifft Frauen etwa doppelt so häufig wie Männer.

Pionierprojekt Schweizer MS Register

Die Schweizerische MS-Gesellschaft setzt sich für die Verbesserung der Lebensqualität von MS-Betroffenen und deren Angehörigen ein. Jedes einzelne Schicksal ist für das bessere Verständnis der «Krankheit mit den tausend Gesichtern» von Bedeutung. Die Schätzungen zur Anzahl MS-Betroffener liegen seit Jahrzehnten bei rund 10 000. Vergleicht man diese Zahl mit anderen europäischen Ländern, die über ein MS-Register verfügen, dürfte die Anzahl der Betroffenen in der Schweiz deutlich höher sein.

Deshalb lanciert die MS-Gesellschaft das Schweizer MS Register. Die umfassende Datenbank hat zum Ziel, die Verbreitung von MS und die Lebenssituation der Patienten systematisch zu dokumentieren: Wie viele Personen sind direkt oder indirekt von der Krankheit betroffen? Wie leben sie mit Multipler Sklerose? Wie sieht ihr Alltag aus? Dazu gehören Lebensqualität, Ernährung, Arbeitssituation, medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapien und alternativmedizinische Behandlungen. Die Informationen werden von den Patienten selbst eingetragen und sollen helfen, das Verständnis für MS-Betroffene und ihre Situation in der Gesellschaft und bei Entscheidungsträgern zu fördern. Die Angaben helfen umgekehrt den Betroffenen und ihren Ärzten, Vorkommnisse und den Verlauf der Krankheit genau zu beobachten.

Während in der klassischen Forschung vor allem nach der biologischen Wirkungsweise und den Ursachen von Multiple Sklerose gesucht wird, soll das Schweizer MS Register mithilfe der Erkrankten den Alltag mit MS abbilden. Zusätzlich soll die Kohortenstudie der MS-Gesellschaft die Sicht der behandelden Ärzte dokumentieren. Sie verfolgt mittels tief gehender Analyse und Langzeitbeobachtung eine Gruppe von rund 1000 Personen aus der ganzen Schweiz, um neue Erkenntnisse über die Effekte der verschiedenen Therapieformen zu gewinnen.

Weitere Informationen zum Schweizer MS Register erhalten Sie unter www.ms-register.ch.

Stéphane Barras

Zeithygiene, Hometraining und Trinkkalender

Gegen MS braucht es nicht nur möglichst früh wirksame Medika­mente, sondern von Anfang an auch ein breites Therapie­konzept. PD. Dr. Christian Kamm nennt die häufigsten Probleme.

In der Schweiz erkranken jedes Jahr fast 500 Personen neu an Multipler Sklerose. Gegenwärtig sind rund 12 000 Menschen davon betroffen. Rund zwei Drittel davon sind Frauen. Die Krankheit trifft vor allem junge Menschen im besten Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Der Erkrankungsgipfel liegt um das 30. Lebensjahr.

Neue Medikamente können den Verlauf von MS in vielen Fällen deutlich verbessern oder sogar aufhalten. «Trotz allen therapeutischen Fortschritten bleiben den Betroffenen Behinderungen aber nicht immer erspart. Und bestehende Behinderungen lassen sich mit Medikamenten kaum oder überhaupt nicht verbessern», sagt Privatdozent Dr. Christian Kamm, Oberarzt am Inselspital Bern Leiter MS Zentrum Luzerner Kantonsspital. Dazu braucht es ganz andere Massnahmen. Hier sind seine wichtigsten Tipps.

Lähmende Müdigkeit

Eines der häufigsten Symptome von MS, welche den Betroffenen den Alltag enorm erschweren kann, ist lähmende Müdigkeit. «Um die Fatigue zu verbessern, braucht es eine konsequente Chronohygiene. Dazu gehören ein möglichst geregelter Tagesablauf und falls möglich regelmässige Pausen und gegebenenfalls kurzen Schläfchen. Ansonsten können auch medikamentöse Therapieversuche mit verschiedenen antriebssteigernden Medikamenten ausprobiert werden, die regelmässig in Tablettenform eingenommen werden.

Häufiges Wasserlassen als Folge einer Dranginkontinenz kann durch Medikamente verbessert werden. Sehr lohnend ist ein Miktionstagebuch, um zu schauen, in welchen Abständen man trinken und aufs WC gehen sollte, um möglichst wenig Beschwerden zu haben. Weiter empfiehlt sich, die Trinkmenge je nach Beschwerden auf circa 2 Liter pro Tag zu beschränken. Auch Beckenbodentraining kann sehr hilfreich sein. Dazu sollte ein speziell ausgebildeter Physiotherapeut für die Therapie und Schulung einbezogen werden.

Physio- und Ergotherapie sind wichtige Säulen

Physio- und Ergotherapie sind wichtige Säulen, um Behinderungen therapeutisch zu beeinflussen. Man kann sie ambulant durchführen, wobei je nach Bedarf bis zu zwei Trainings pro Woche angezeigt sind. Alternativ können besonders bei hochgradiger Behinderung regelmässige stationäre Rehabilitationen in speziellen Rehakliniken sinnvoll sein. Häufige Probleme wie Gangunsicherheit, Feinmotorikstörungen der Hände, Spastik und reduzierte Ausdauer können damit gezielt angegangen werden. Kürzlich wurde ein Heimtrainingsprogramm entwickelt, das die Geschicklichkeit der Hände deutlich verbessert und zu Hause durchgeführt werden kann.

Auch die Erkennung und Behandlung von psychischen und sozialen Problemen ist essentiell, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Dazu ist eine enge Betreuung durch Psychologen bzw. Psychiater sowie Sozialberater notwendig. Neben diesen sehr spezifischen Therapien ist es sehr wichtig, dass die Betroffenen im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Alltag sowohl körperlich als auch psychisch möglichst aktiv sind. Das ist mit Abstand das beste Training.

PD Dr. Christian Kamm, Oberarzt am Inselspital Bern und Leiter MS Zentrum Luzerner Kantonsspital

Konsequente Frühtherapie

Heute weiss man, dass es bereits früh im Verlauf einer MS zu Schäden im Nervensystem kommt und bestehende Schäden kaum rückgängig gemacht werden können. Deshalb ist für einen langfristigen Erfolg eine konsequente Frühtherapie unabdingbar.

Seit gut zwanzig Jahren stehen bewährte Spritzenpräparate zur Verfügung. Mittlerweile gibt es auch ein modifiziertes Interferon, das aufgrund einer Strukturänderung bei vergleichbarer Wirksamkeit nur noch alle zwei Wochen gespritzt werden muss.

Bei der ersten oralen Therapie gegen schubförmige MS blickt man auf eine fünfjährige Erfahrung zurück. In Langzeitstudien konnte die gute Wirksamkeit bestätigt werden. In den letzten Jahren kamen weitere Medikamente zur intravenösen und oralen Anwendung dazu. Unter anderem ein altbekannter Wirkstoff, der bis heute gegen die Psoriasis verwendet wird. Durch Zufall entdeckte man, dass dieser Wirkstoff auch gegen MS hilft. Mittlerweile werden in der Schweiz mehr als 1000 MS-Patienten damit behandelt. Neue Therapien werden in Bälde folgen und die Chancen auf ein behinderungsfreies Leben erhöhen.

 

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 29.09.2016.

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