Die sieben Irrtümer

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Die klinische Behandlung von krankhaftem Übergewicht ist ­kompli­zierter als bisher angenommen. Dr. Philipp Nett vom universi­tären Adipositas­zentrum Bern kennt die grössten Fehlannahmen.

Irrtum Nr. 1

Adipositas ist Schicksal

Dr. Philipp Nett: Völlig falsch! Adipositas hat weder etwas mit schweren Knochen zu tun, noch ist es vollumfänglich genetisch und familiär bedingt, noch sind die bösen Hormone Schuld. Adipositas hat mit der Erziehung und Aufklärung zu tun und mit dem Verhalten der Menschen. Natürlich geht es hier auch um finanzielle und intellektuelle Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung eines gesunden Lebensstils. Das beginnt in der frühen Kindheit und zieht sich bis ins Erwachsenenalter. Die Vorbildfunktion der Eltern spielt eine wichtige Rolle. Ebenso die Aufklärung in der Schule. Ein grosses Problem ist: Heute geht Konfliktbewältigung mehr über das Essen als über den Sport. Der Magen wäre kleiner und der Dünndarm kürzer, wenn der Mensch nochmals neu für unsere Zivilisation konstruiert werden müsste. Adipositas hat nämlich einzig und alleine mit Energie-Input und Verbrauchs-Output zu tun. Wie viel Essen führe ich meinem Körper zu und wie viel davon verbrenne ich durch Aktivität. Die Rechnung ist ganz einfach. Das Resultat auch.

Irrtum Nr. 2

Mit der bariatrischen Chirurgie lässt sich alles regeln

Dr. Philipp Nett: Die chirurgische Intervention wird heute ein wenig missbraucht. Wir wissen zwar, dass die bariatrische Chirurgie die wirkungsvollste Behandlung von krankhaftem Übergewicht ist. Wir wissen aber zurzeit noch nicht genau, welcher Patient für diese Art von Behandlung der richtige ist. Es wird viel zu schnell operiert, weil die Methode schnelle Resultate liefert. Dabei könnte man die guten Ergebnisse vielleicht auch anders erreichen, nämlich indem man die metabolischen Effekte beim Übergewichtigen genauer analysiert und sie sich bei der Behandlung zunutze macht.

Irrtum Nr. 3

Der Arzt weiss längst, was der Adipöse braucht

Dr. Philipp Nett: Falsch. Bei Adipositas gibt es keine 08/15-Lösung. Der Patient selber definiert sein Problem. Es ist wie bei einer Fahrt auf dem U-Bahn-Netz einer Grossstadt. Wenn ich von A nach B gelangen möchte, überlege ich mir vorher, welche Linie ich am besten nehme, wo ich umsteigen muss, was ich genau tue und was es kostet. Beim Abnehmen ist es gleich. Es gibt Patienten, die keine Operation möchten, bei denen aber konservative Therapieansätze zur Gewichtsreduktion versagen. Wäre es hier sinnvoll, mit einem Magenballon zu beginnen, dann auf eine weiterführende Methode umzusteigen? Wir wissen es nicht. Oder soll ich den Magen in einer Gastroplikatio zusammennähen anstatt wie bei der Sleeve-Gastrektomie einfach einen Teil abzuschneiden oder wie beim Magenbypass-Verfahren die Anatomie umzustellen? Oder entscheide ich mich für das System Aspire, bei dem das Zuviel an Essen durch einen Notausgang einfach wieder abgelassen werden kann? Gibt es vielleicht einen ganz anderen Weg? All dies weiss man am Anfang noch nicht.

Irrtum Nr. 4

Auf bekannte Grössen setzen

Dr. Philipp Nett: Lieber nicht. Der Body-Mass-Index für sich ist zu simpel. Der Bauchumfang als alleinige Messgrösse ebenfalls. Beide zusammen sind zwar etwas besser in der Aussagekraft, aber trotzdem noch völlig ungenügend für eine Beurteilung des Patienten. Auch das komplexere Edmonton Obesity Staging System ist nicht geeignet. Unser Problem im Moment: Wir haben nichts Besseres und missbrauchen diese Parameter zum Messen des Behandlungserfolges.

Irrtum Nr. 5

Am besten nur ein einziger Arzt

Dr. Philipp Nett: Falsch! Die Zeit der altertümlichen Disziplinenhoheit ist endgültig vorbei. Das Thema Adipositas ist viel zu komplex, als dass ein einziger Experte die richtige Lösung kennt. Jeder übergewichtige Patient braucht einen individuellen Behandlungspfad. Adipositas ist eine lebenslange Krankheit, vergleichbar mit anderen chronischen Krankheiten wie Rheuma, Krebs, Herz-Kreislauf- oder Atemwegserkrankungen. Adipositas-Patienten müssen von einem Ärzteteam verschiedener Disziplinen gemeinsam behandelt und betreut werden. Die Sprechstunden gehören zeitlich und lokal zusammen, was wir im universitären Adipositaszentrum Bern mit einem Bauchzentrum im Inselspital, im Spital Tiefenau und aktuell auch im STS Spital Thun elegant gelöst haben. Chirurgen, Endokrinologen, Gastroenterologen, Ernährungsberater und Psychologen beraten gemeinsam. Wir müssen die Legosteine einer Therapie zuerst sortieren. Und gleich am Anfang beleuchten, wie es nach dem Gewichtsverlust weitergehen soll, zum Beispiel in Sachen Wiederherstellungschirurgie. Man muss sich verschiedene Brillen aufsetzen, um das ganze Problem zu erfassen und den Patienten engmaschig zu begleiten. Kultur und Philosophie der Behandlung sind neu. Wir nennen das «Adipositas 2.0».

Irrtum Nr. 6

Für Kinder braucht es andere Ärzte als für Erwachsene

Dr. Philipp Nett: Überhaupt nicht, obwohl wir wissen, dass Kinder nicht junge Erwachsene sind. Die Behandlungskonzepte bei Kindern sind primär konservativ, und wenn chirurgisch, dann minimalinvasiv und noch umkehrbar. Wichtig ist, dass auch schon adipöse Kinder von einem Ärzteteam begleitet werden. Der Pädiater ist Teil dieses Teams, und er bleibt es über das 16. Altersjahr hinaus. Genau das geschieht heute nämlich nicht: Die Patienten werden von einem Experten zum nächsten geschickt und das ist falsch.

Irrtum Nr. 7

Mit der Ernährungspyramide schaffe ich es

Dr. Philipp Nett: Die gute alte Ernährungspyramide ist ein Dogma, mit dem heute aufgeräumt werden sollte. Sie dient einzig zur Aufklärung, bringt einen aber bei der Behandlung von Adipositas nicht weiter. Der Erfolg beim Abnehmen hat enorm viel mit der intrinsischen Motivation des Patienten zu tun. Die Bewegungsprogramme mit einem Schrittzähler als Motivator sind der beste Beweis dafür. Seine Lebens- und Essgewohnheiten ändert man nicht durch das blosse Betrachten einer Ernährungs­pyramide.

Weitere Informationen: Inselspital Universitätsklinik Bern, Viszerale Chirurgie und Medizin, Bauchzentrum. www.adipositasbern.ch

 

Adipositas_Expertenbild wp

Das Expertenteam, von links nach rechts: Dr. med. Philipp C. Nett, Leitender Arzt, Leiter bariatrische und metabolische Chirurgie, Dr. med. Julia Altmeier , Assistenzärztin Chirurgie, Dr. med. Marco Janner, Oberarzt pädiatrische Endokrinologie, Leiter Adipositassprechstunde, Dr. med. Dino Kröll, Oberarzt Viszerale Chirurgie, PD Dr. med. Markus Laimer, Oberarzt Endokrinologie