Es begleitet mich ein neuer Freund

Der Journalist und Publizist Frank A. Meyer gibt selten ­Interviews. Hier spricht er über die letzten Fragen im Leben. Ein vis-à-vis über das Alter, den Schlaf und den Tod.

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Ab wann ist man alt?

Frank A. Meyer: Wenn man ehrlich ist, so ab 70. Das gefühlte Alter hat sich aber deutlich verschoben: Wenn man heute 70 Jahre alt ist, fühlt man sich wie 60.

Fühlen Sie sich alt?

Nein, ich habe noch kein Gefühl für das Alter. Ich spüre es auch nicht, weder physisch noch psychisch. Ich beschäftige mich nur intellektuell damit. Wahrscheinlich habe ich ein paar Falten mehr als früher (denkt kurz nach). In sieben Jahren bin ich 80. Das ist schon bald. Dieser Gedanke erschreckt mich natürlich.

Verdrängen Sie das Altwerden?

Mir ist bewusst, dass ich älter werde. Es begleitet mich ein neuer Freund: Der Gedanke an die Zeit, die verrinnt. Es ist ein guter Freund. Und wie ein guter Freund ist er nicht aufdringlich. Altwerden geht heute nicht mehr zwingend mit einem körperlichen oder geistigen Niedergang einher. Wenn ich so zurückblicke, dann schien die Zeit zwischen dem 30. und dem 60. Lebensjahr ewig. Ich nenne die Zeit in der Mitte des Lebens die «Ewigkeitsphase». Der Mensch ist einfach da und denkt nicht an seine Endlichkeit. Diese Zeit ohne Zeit ist vorüber.

Spüren Sie auch keine Altersmüdigkeit?

Nein, Ermüdungserscheinungen fühle ich nicht. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ich ein Siesta-Mensch bin.

Ermüden Menschen, die einen Mittagsschlaf machen, denn weniger schnell am Leben?

Siesta-Menschen machen aus einem Tag zwei. Den Mittagsschlaf zelebriere ich seit je. Ich brauche diese Bruchstelle in der Mitte des Tages. Die Erholung am Mittag ist etwas Wunderbares. Ich glaube nicht, dass der Mensch dazu gemacht ist, acht Stunden durchzuarbeiten. Das ist eine protestantische Disziplinierung, die man im Süden nicht kennt. Ich glaube im Gegenteil, dass der Mensch dazu gemacht ist, mehrmals am Tag zu schlafen. Auch das gelingt mir immer wieder.

Wie sieht bei Ihnen der Morgen aus?

Im Hochsommer schwimme ich oft schon um halb fünf Uhr im Schlachtensee in Berlin, wo ich seit zehn Jahren lebe. Ich liebe die Morgendämmerung. Im Winter bevorzuge ich das Hallenbad eines Hotels. Nach 40 Minuten Rückenschwimmen geniesse ich bei Zeitungslektüre meine erste grosse Tasse Kaffee. Anschliessend lege ich mich nochmals eine halbe Stunde hin. Diese Schlafpausen, vor allem das Einschlafen und das Aufwachen, empfinde ich als intellektuell sehr kreativ.

Verschlafen Sie so nicht den halben Tag?

In unseren Breitengraden muss man sich entschuldigen, wenn man schlafen geht. «Ich habe verschlafen», sagt man ja auch mit schlechtem Gewissen. Schlafen ist negativ belegt. Es wird mit Unproduktivität gleichgesetzt. Dabei ist Schlaf eine andere, eine passive Phase der Aktivität. Ich sinke in den Schlaf, träume und tauche wieder auf. Im Schlaf passiert Wunderbares, auch wenn man sich nicht an alle Träume erinnert.

Passt diese Schlafkultur zur Hektik unserer Zeit?

Ich bin ein grosser Anhänger der langen Weile. Es ist gut, immer wieder die Zeit anzuhalten und so den Tagesablauf zu ritualisieren. Lange Weile heisst zulassen. Ich gebe das Steuer aus der Hand. Ich treibe dahin. Ich liebe diese Stunden, in denen scheinbar nichts passiert. Die Gedanken, die in solchen Momenten auftauchen, halte ich oft schriftlich fest, damit sie nicht wegfliessen in der Strömung der langen Weile.

Zurück zum Alter. Wer stellt denn heute noch Menschen über 50 ein?

Wir leben in einer Welt des Jungendfetischismus. Viele Arbeitnehmer über 50 müssen um ihre Arbeitsstelle bangen. Und mit der Pensionierung ist dann für die meisten endgültig Schluss. Es ist grotesk, auf den riesigen Erfahrungsschatz dieser Menschen einfach zu verzichten. Doch so lange die Wirtschaft in den Händen von jugendlichen Eiferern und infantilen St.-Gallen-Absolventen liegt, wird sich daran nicht so schnell etwas ändern. Obwohl die ja auch älter werden – und ebenfalls das Schicksal erleiden, das sie Älteren zugefügt haben.

Sind Menschen über 50 überhaupt noch leistungs­fähig?

Die Jungen rennen schneller, aber die Alten kennen die Abkürzung. Genau dieser Erfahrungsschatz macht den Unterschied aus. Ich bin gegen jegliche Altersgrenze bei der Pensionierung. Jeder soll seine Lebensarbeitszeit so bemessen können, wie er möchte – eine Pensionierung à la carte. Leider ist die Wirtschaft grösstenteils unfähig, hier offen zu sein und neue, flexible Arbeitsmodelle zu finden. Was heute mit den Pensionierten gemacht wird, ist auch eine gewaltige Geldverschleuderung. Denn Erfahrung ist Geld.

Dann gibt es in der logischen Konsequenz auch keine Überalterung der Gesellschaft?

Schon der Begriff ist absurd. Dass die Menschen länger und vor allem gesünder leben, ist doch wunderbar. Generationen vor uns haben davon nur geträumt. Jetzt, wo wir diesen einmaligen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit erleben, machen wir ihn zum Problem und sprechen von Überalterung. Das ganze Leben ist mittlerweile so brutal ökonomisiert, dass wir das Alter nur noch als Kostenfaktor betrachten statt als geschenkte Lebenszeit.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Ich habe ein Grundvertrauen, dass sich mein Körper und meine Seele auf das Sterben einstellen werden. Mein Vater ist in meinen Armen gestorben. Er hatte sich auf das Sterben eingerichtet. Es war ein guter Tod. Irgendwann wird sich das Alter auf meine Gesundheit und Leistungsfähigkeit auswirken. Vielleicht mit 80, vielleicht auch erst mit 90. Im Alter langsamer und gebrechlicher zu werden, ist normal. Verlangsamung ist etwas Wertvolles. Tempo lässt keine Reflexion zu.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Diese Frage lasse ich offen. Das spielt sich jenseits von unserer Wirklichkeit ab. Wichtig ist, was ich aus meinem Leben mache. Dass ich liebe und umarme. Was nach meinem Tod geschieht, weiss ich nicht. Die Welt geht nicht mit mir unter. Wenn es mich einmal nicht mehr gibt, sind die Menschen noch da. Sie leben ihr Leben. Sie gestalten die Gesellschaft. Mein Weiterleben, das sind diese anderen. Das ist für mich der grösste Trost.

Glauben Sie an Gott?

Wenn ich an Gott glaube, dann ist er in mir – mein persönlicher Gott. Mich überkommt ab und zu eine gewisse Frömmigkeit. Es ist Dankbarkeit. Dann bete ich: als Dank. Ich mache den lieben Gott nicht für meine Probleme verantwortlich.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 24.11.2016.

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