Keine Abstinenz um jeden Preis

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In der Schweiz gibt es rund 300 000 alkohol­abhängige Personen. Fünf bis zehn Prozent aller Mitarbeiter in einem Betrieb haben ein Alkoholproblem. 3500 Menschen sterben jährlich an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Dazu kommen über 100 Tote bei Verkehrsunfällen, die von Alkoholisierten verursacht werden. Zusammen mit Angehörigen im nächsten sozialen Umfeld sind eine Million Menschen unmittelbar von einem Alkoholproblem betroffen.

Die Tragweite des Alkoholmissbrauchs ist immens. Trotzdem sind weniger als zehn Prozent der Alkoholabhängigen in Behandlung. Alkoholmissbrauch ist die am wenigsten behandelte psychiatrische Erkrankung. Eine neue Behandlungsstrategie soll das nun ändern. Nicht mehr Abstinenz um jeden Preis steht im Vordergrund, sondern eine Reduktion des Alkoholkonsums, sowohl hinsichtlich der Trinkmenge wie auch der Anzahl Tage mit hohem Alkoholkonsum. Typische Kandidaten, die für diese Behandlungsform in Frage kommen, sind Menschen mit einem risikoreichen Trinkverhalten, die bereit sind, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren. Unterstützt werden kann die Behandlung beim Arzt mit Medikamenten, welche das Verlangen nach Alkohol reduzieren und das unausgeglichene Belohnungssystem im Gehirn wieder herstellen. Die Patienten profitieren von einer raschen und anhaltenden Reduktion ihres Alkoholkonsums.

Suchtexperten fordern ein Umdenken

Auch in einer kürzlich erschienenen Ausgabe der Schweizerischen Ärztezeitung fordern namhafte Suchtexperten ein Umdenken bei der Behandlung von alkoholabhängigen Menschen. Abstinenz gelte zu Unrecht als einziger Ausweg aus der Alkoholsucht. Zieloffene Therapien zur Reduktion des problematischen Konsums seien nötig, um die Behandlungs- und Erfolgsraten zu steigern. Dies erfordere eine individuelle Behandlung der Patienten und eine Abkehr von Dogmen.

Bereits heute überwindet eine Mehrheit der Alkoholabhängigen ihre Sucht durch Reduktion des Trinkverhaltens und nicht durch völligen Verzicht. Suchttherapie könne nur erfolgreich sein, wenn ein Patient von den Zielen seiner Behandlung überzeugt sei und von sich aus eine Veränderung wolle. Eine Reduktion sei viel besser, als die Betroffenen ihrem Schicksal zu überlassen. Ärzte und Therapeuten sollten deshalb davon abrücken, bereits im Vorneherein zu wissen, was das Beste für ihre Patienten sei. Internationale Studien belegen den Erfolg der zieloffenen Therapie. Die durchschnittliche Erfolgsquote liegt bei 65 Prozent, wobei der Alkoholkonsum um 50 Prozent reduziert wird.

Mehr Infos: www.infodrog.ch, www.drink-less-schweiz.ch

 

Alkoholabhängigkeit ist schambehaftet

Suchtexperte Dr. med. Toni Berthel* erklärt, weshalb es sich lohnt, ein Alkoholproblem rechtzeitig anzupacken und den Arzt nach einer ­Unterstützung zu fragen.

Weshalb schaut man bei einem Alkoholproblem gewöhnlich weg?

Der Konsum von Alkohol ist in unserer Gesellschaft üblich. Alkohol entspannt, fördert den Kontakt, wird in geselliger Runde getrunken, berauscht, kann aber auch zu Abhängigkeit führen. Alkoholabhängigkeit und generell Suchterkrankungen gehen mit dem Verlust der Kontrolle, Steigerung der Konsummenge, Entzugserscheinungen sowie körperlichen und sozialen Problemen einher. Alkoholabhängigkeit und Sucht werden in unserer Gesellschaft mit Lasterhaftigkeit in Verbindung gebracht. Das macht Angst. Darum wenden wir uns von Menschen mit Alkoholproblemen ab. Viele von uns trinken regelmässig selber Alkohol. Im Anblick des anderen, der Alkohol trinkt, werden wir auch mit unserem eigenen Konsumverhalten konfrontiert. Und seien wir ehrlich. Viele haben sich schon überlegt, ob sie nicht zu viel trinken, ob sie ihren Konsum noch im Griff haben. Psychologisch sprechen wir hier von Abwehr.

Wie ist es zu erklären, dass nur gerade ein paar wenige Prozent aller Menschen mit Alkoholproblemen in Behandlung sind?

Alkohol_Berthel_1348Neben dem erwähnten Abwehrmechanismus existieren unterschiedliche Problemlagen. Beim Alkohol unterscheiden wir zwischen risikoarmem, problematischem und abhängigem Konsum. Auch redet man von Gelegenheitskonsum, Rekreationskonsum, Rauschkonsum, Risikokonsum, situationsunangepasstem Konsum, episodischem oder Dauerkonsum. Die von der WHO festgelegte schädliche Menge von drei bis vier Standardgetränken pro Tag bei Männern und zwei bis drei Standardgetränken pro Tag bei Frauen werden von vielen Menschen, die regelmässig Alkohol konsumieren, als unproblematisch beurteilt. Das bedeutet, dass viele erst mit körperlichen, psychischen oder sozialen Problemne beim Arzt oder einer Alkohol- oder Suchtberatungsstelle Hilfe suchen. Nicht selten wird Hilfe quasi aufgezwungen, wenn jemand alkoholisiert ein Auto fährt, von der Polizei kontrolliert wird und dann den Fahrausweis abgeben muss.

Weshalb sind die Hürden immer noch so hoch, sich mit einem Alkoholproblem einer Therapie zu unterziehen?

Probleme, die mit Kontrollverlust einhergehen, oder die in der Öffentlichkeit als Laster beurteilt werden, sind stark schambehaftet. Menschen mit Suchtproblemen fällt es deshalb häufig schwer, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Suchtprobleme werden von der Gesellschaft in der Regel mit Selbstverschulden in Verbindung gebracht. «Du hast ja selber getrunken.» «Es hat dich niemand gezwungen, zu trinken.» Solche Aussagen hört man nicht selten. Sie verstärken die Schamgefühle und die Angst, Hilfe zu suchen. Häufig bestehen auch falsche Vorstellungen, wie eine Beratung und Behandlung ablaufen.

Gewöhnlich verbindet man den Gedanken an eine Therapie mit totaler Abstinenz. Ist das noch zeitgemäss?

Viele Jahrzehnte wurde die Behandlung einer Alkoholproblematik mit Abstinenz gleichgesetzt. Heute wissen wir, dass ein Grossteil der Menschen, die zu viel Alkohol konsumieren, ohne professionelle Hilfe auf den Alkohol verzichten oder die Konsummenge reduzieren kann. Das heisst, die Fähigkeit, Konsumgewohnheiten zu ändern, ist auch bei Abhängigen vorhanden. Der Ausspruch «einmal suchtkrank, immer suchtkrank» ist falsch. Auch in der Beratung und Behandlung werden heute Ziele gemeinsam erarbeitet. Da kann sich jemand für Abstinenz, ein anderer für den kontrollierten Konsum und wieder ein anderer für einen Gelegenheitskonsum entscheiden. Die Suchtfachleute aus Medizin, Psychologie und Sozialarbeit begegnen heute ihren Patienten und Klienten auf Augenhöhe. Ziel sind Selbstverantwortung und Selbstkompetenz. Weg vom Paternalismus und von aussen vorgegebenen Zielen, hin zu einem selbstverantworteten Konsummuster. Suchterkrankungen gehen mit Rückfällen einher. Wir müssen das in unserer Behandlung berücksichtigen. Wenn ausschliesslich Abstinenz als Ziel definiert wird, tun wir unseren Patienten unrecht und verstärken ihr Leiden. Eine abstinenzorientierte Behandlung ist daher nur noch eine unter vielen Methoden. Die Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen ist erfolgreich, wenn der Kontakt auf Gleichwertigkeit beruht und eine nicht wertende Beziehung aufgebaut werden kann.

Wie sieht eine individualisierte Therapie bei ­Alkoholproblemen aus?

Suchterkrankungen gehen in der Regel mit körperlichen, seelischen und sozialen Problemen einher. Jeder Therapie geht eine differenzierte Abklärung voraus. Das bedeutet, dass wir erstens die Trinkmenge und die mit dem Konsum einhergehenden Probleme erfassen. Und zweitens, dass wir psychische und soziale Probleme erfragen. Und drittens, dass wir einen körperlichen Untersuch beim Hausarzt durchführen lassen, und so das Ausmass der mit dem Alkoholkonsum verbundenen Schwierigkeiten kennen. Gemeinsam mit dem Patienten oder Klienten versuchen wir, die Ziele, die er mit der Therapie erreichen will, herauszuarbeiten. Häufig sind dabei Techniken der motivierenden Gesprächsführung hilfreich. Entscheidet sich ein Patient für Abstinenz, können wir einen Alkoholentzug im ambulanten – und falls dies nicht möglich ist – im stationären Rahmen durchführen. Dabei werden Medikamente, welche die Entzugserscheinungen lindern, abgegeben. Nach dem Entzug ist in der Regel eine längere Entwöhnungsphase angezeigt. Sie kann ambulant oder stationär durchgeführt werden.

Entscheidet sich der Patient für den kontrollierten Alkoholkonsum, werden Methoden zur Stärkung der Kontrolle über das Trinkverhalten geübt. Die gewünschte Trinkmenge und die Konsumtage werden festgelegt. Der Patient schreibt die jeweils konsumierte Menge auf, und in der Therapie werden die mit dem Konsum einhergehenden Gefühle, Situationen, Spannungen, Probleme, aber auch die positiven Erlebnisse analysiert, bewertet und die nächsten Schritte vereinbart. Falls sinnvoll und gewünscht werden mit der Alkoholproblematik in Verbindung stehende psychische und körperliche Probleme behandelt oder soziale Fragen bearbeitet. In der Regel finden wir bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit auch andere psychische Probleme oder Störungen. Diese müssen häufig mit Medikamenten behandelt werden.

Wie schafft man ganz konkret, die Menge an ­Alkohol und die Tage mit hohem Alkoholkonsum zu reduzieren?

Im Volksmund sagt man rasch einmal: «Das ist doch ganz einfach, du musst nur weniger trinken!» Doch ein über lange Zeit festgefahrenes Verhalten kann man nicht so ohne Weiteres ändern. Als erstes versuchen wir immer, das Trinkmuster zu erfahren. Dazu erstellt der Patient ein Trinktagebuch. Hier zeigt sich, wie viel, wann, weshalb und wo jemand trinkt. Das ist der erste Schritt, um eine Veränderung einzuleiten. Wenn jemand weniger trinken will, versucht man, Ort, Zeitpunkt und Menge des Konsums festzulegen und langsam die Trinkmenge zu reduzieren. Wenn jemand einen ambulanten Entzug machen will, geben wir Medikamente ab, welche die Entzugserscheinungen lindern. Gleichzeitig kommt der Patient täglich in der Beratungsstelle oder im Suchtambulatorium vorbei. Der Blutdruck wird gemessen, das Ausmass der Entzugserscheinungen wird abgeschätzt, mit dem Alkoholblasgerät wird ein allfälliger Alkoholkonsum gemessen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ein professionell durchgeführter ambulanter Entzug gleich Erfolg versprechend ist wie ein stationärer Entzug. Damit die Kontrolle über den Alkoholkonsum erhalten werden kann, ist es angezeigt, immer wieder alkoholfreie Tage einzuschalten. Bei regelmässigem Konsum werden zwei alkoholfreie Tage pro Woche empfohlen. Auch ist es sinnvoll, immer wieder wochenweise auf Alkohol zu verzichten. Das kann helfen, Probleme am Arbeitsplatz, in der Familie oder körperliche Schäden zu verhindern.

Gibt es dazu auch eine medikamentöse Unterstützung?

Ein Medikament wie beispielsweise Insulin, das beim Diabetes das fehlende körpereigene Hormon ersetzt, gibt es bei der Alkoholkrankheit noch nicht. Wir haben aber Medikamente, welche das Verlangen nach dem Suchtmittel Alkohol reduzieren. Es ist jedoch angezeigt, haus- oder fachärztliche Hilfe zu suchen. Nicht selten muss man mehrere Medikamente kombinieren und andere psychische Probleme gleichzeitig behandeln. Alkoholabhängigkeit kann aber alleine mit Medikamenten nicht erfolgreich behandelt werden. Es ist wichtig, ärztliche Hilfe mit suchttherapeutischen Methoden zu kombinieren. Gewarnt werden muss vor der langdauernden Einnahme von Beruhigungsmitteln. Hier kann sich rasch eine Gewöhnung und anschliessend eine Suchtverschiebung einstellen.

Wohin wendet man sich am besten, wenn man willens ist, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren?

Wenn jemand den Alkoholkonsum reduzieren möchte, findet er Hilfe beim Hausarzt, bei den Alkohol- und Suchtberatungsstellen, die in allen Regionen der Schweiz spezialisierte Unterstützung und Hilfe anbieten oder bei den Suchtambulatorien, die es in vielen grös­seren Städten gibt und die in der Regel an eine medizinische oder psychiatrische Klinik angegliedert sind.

*Dr. med. Toni Berthel, Ärztlicher Co-Direktor inte­grierte Psychiatrie Winterthur - Zürcher Unterland, und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen.