Umdenken bei der Depression

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Wissenschaftliche Studien belegen, dass der gefühlte Stress in den letzten 70 Jahren deutlich zugenommen hat. Das ist erstaunlich. Der steigende Wohlstand, die materielle Sicherheit, politische Stabilität, die Erfolge der Medizin, die zunehmenden Freizeit- und Karrieremöglichkeiten, vergrösserter Wohnraum, Kranken- und Sozialversicherungen etc. führten zu einer deutlichen Abnahme des objektiven Stresses. Der Rückgang von schweren Herzinfarkten bei Männern und die generelle Zunahme der Lebenserwartung bestätigen diese Beobachtung.

Moderner Stress ist eng mit der Art und der Bedeutung von Arbeit verknüpft. Eine Untersuchung des Staatssekretariats für Wirtschaft hat ergeben, dass das Erleben von Stress der arbeitenden Schweizer Bevölkerung von 2000 bis 2010 um circa ein Drittel zugenommen hat. Die Befragten gaben an, dass Zeitdruck, unklare Anweisungen und soziale Diskriminierung die Hauptursachen des Arbeitsstresses seien. Es gibt aber kaum Hinweise, dass sich diese Faktoren tatsächlich verschlechtert hätten. Die Arbeitszeit nahm im Durchschnitt ab. Führungskräfte wurden immer besser ausgebildet. Die soziale Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen hat ebenfalls ab- und nicht zugenommen. Dies weist darauf hin, dass wir uns zwar immer gestresster fühlen, aber nicht genau wissen weshalb.

Aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen und meiner persönlichen Erfahrung als Psychiater und Psychotherapeut erkenne ich zwei Hauptgründe, warum der gefühlte Stress stetig zunimmt: veränderte Anforderungen am Arbeitsplatz und eine Abnahme der psychischen Widerstandskraft.

Radikale Veränderung der Arbeitswelt in den letzten 70 Jahren

Die Arbeitswelt hat sich in den letzten 70 Jahren radikal verändert. Früher lernte man ein Handwerk, wurde ein Meister darin und war stolz, das ganze Arbeitsleben gute Brote oder bequeme Schuhe herzustellen. Heute ist das ganz anders. Von den Mitarbeitenden wird Kreativität, Initiative, zeitliche und mentale Flexibilität, Versprühen von Begeisterung, Multitasking und hohe geistige Geschwindigkeit verlangt. Das führt dazu, dass bereits leichte depressive Symptome wie fehlende Freude und Begeisterung, geringe Initiative oder eine geschwächte mentale Fitness zu schwerwiegenden Problemen führen.

Früher waren die Verkürzung eines Armes oder ein Schlottergelenk typische Ursachen von Invalidität. Depressionen spielten keine grosse Rolle. Einfache handwerkliche Arbeiten wie Hühner füttern können selbst in einem schweren depressiven Zustand gemacht werden. Dem Geissenpeter in Johanna Spyris berühmten Heidi-Erzählungen gelang es trotz Lernstörung, Motivationsproblemen und fehlender Selbstbeherrschung, eine sinnvolle berufliche Aufgabe als Ziegenhirt zu finden. Das Problem ist, dass seit Spyris Zeiten solche Tätigkeiten rar geworden sind.

Mentale Fitness im Zentrum der Stress-Forschung

Die Psychiatrie ist durch diese Veränderung der Arbeitswelt zu einem der wichtigsten medizinischen Fächer geworden. Moderne Psychiatrie beschäftigt sich aus den genannten Gründen nicht nur mit schweren Krankheiten wie Schizophrenie, sondern zunehmend mit leichteren Stresskrankheiten wie Depression, Burnout und Angststörungen. Die mentale Fitness steht zunehmend im Zentrum des Interesses der Stress-Forschung, weil man erkannt hat, dass neben den Gefühlen und der Stimmung intellektuelle Fähigkeiten wie Konzentra­tion, Aufmerksamkeit und geistiges Tempo entscheidend für das Wohlbefinden und die Arbeitsfähigkeit sind.

Störungen der mentalen Fitness kann man in vier Bereiche einteilen: Aufmerksamkeitsstörungen (Schwierigkeiten beim Zuhören, roten Faden beim Denken verlieren), Gedächtnisstörungen (Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen), Störungen höherer geistiger Fähigkeiten (Entscheidungsunfähigkeit, Planungsunfähigkeit) und die mentale Verlangsamung.

Im Folgenden sehen Sie Fragen, die sich für eine erste grobe Abschätzung der mentalen Fitness bei depressiven Störungen bewährt haben.

  • Sind Sie vergesslicher als sonst? (Konzentrations- und Gedächtnisstörungen)
  • Fällt es Ihnen beim Einkaufen deutlich schwerer, sich für ein Produkt zu entscheiden? (Störung der Exekutivfunktion)
  • Haben Sie Schwierigkeiten, sich auf ein Buch, ein Musikstück oder eine Fernsehsendung zu konzentrieren? (Aufmerksamkeitsstörung)
  • Denken und arbeiten Sie deutlich langsamer als früher? (mentale Geschwindigkeit)
  • Sind Sie in der Lage, so effektiv wie gewohnt zu arbeiten? (Auswirkungen einer geschwächten mentalen Fitness)
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Prof. Gregor Hasler

Noch nie wurden so viele Antidepressiva verordnet wie heute

Weil Depression, Burnout und übermässige Angst eine zunehmend grosse Auswirkung auf unsere Arbeitsfähigkeit, unser Sozialleben und unser Wohlbefinden haben, erstaunt es nicht, dass Angst- und Stimmungsstörungen immer häufiger diagnostiziert und behandelt werden. Noch nie gab es so viele Psychiaterinnen, Psychotherapeuten, Beraterinnen und mentale Coaches wie jetzt, und noch nie wurden so viele Antidepressiva verordnet wie heute. Dieser «Psychoboom» ist aber nicht Teil des Problems, wie oft behauptet wird, sondern eine verständliche Reaktion auf die neuen Herausforderungen. Wir brauchen die Psychoangebote, die wie Pilze aus dem Boden schiessen, um dem Bedürfnis der Wirtschaft nach einer überdurchschnittlich guten mentalen Fitness gerecht zu werden.

Im Verlauf depressiver Störungen verschlechtert sich die mentale Fitness deutlich. Je länger eine depressive Phase dauert, desto ausgeprägter ist die Verschlechterung. Nach dem Abklingen einer depressiven Phase bleiben mentale Fitness-Verluste oft noch über Wochen und Monate bestehen. Deshalb ist es wichtig, Depressionen frühzeitig zu erkennen und entschlossen zu behandeln.

Psychische Widerstandskraft nimmt ab

Neben der Veränderung der Arbeitsbelastung gibt es einen zweiten wichtigen Grund, warum der gefühlte Stress zunimmt: Unsere psychische Widerstandskraft – sprich Resilienz – nimmt ab. Die Wirtschaftskrise von 1929 trieb viele Menschen buchstäblich in den Ruin. Sie litten Hunger, froren, gingen in Lumpen und lebten in zerfallenden Häusern. Doch sie wurden kaum depressiv, und die Suizidrate nahm nicht markant zu. In der Finanzkrise von 2008 stieg die Arbeitslosenquote in der Schweiz, in Deutschland und den USA nie über zehn Prozent. Diese Krise führte nicht zu Frostbeulen und Hunger, aber zu einem deutlichen Anstieg von gefühltem Stress und Depressionen. 48 000 Menschen nahmen sich wegen dieser Krise das Leben. Dieses Beispiel zeigt, wie gross und besorgniserregend unsere seelische Verletzlichkeit geworden ist.

Soziale Medien wie Facebook stärken die Resilienz nicht

Kulturelle und soziale Faktoren sind entscheidend für die Resilienz. Besonders wichtig sind Menschen, denen wir vertrauen, die uns im Notfall beistehen und die in der Nähe wohnen. Leider hat in westlichen Ländern die Anzahl solcher Vertrauenspersonen in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Dies ist vor allem die Folge eines übertriebenen Individualismus und der zunehmenden geografischen Mobilität. Wir ziehen immer häufiger um, aber auch unsere Verwandten, Freunde, Bekannten und Nachbarn tun dasselbe. Der stetige Verlust des regionalen Netzwerkes kann kaum wettgemacht werden, weil der Aufbau vertrauensvoller und unterstützender Beziehungen viel Zeit braucht. Soziale Medien wie Facebook stärken die Resilienz nicht.

Äusserliche Werte verdrängen traditionelle

Der ausufernde Materialismus schwächt ebenfalls unsere Widerstandskraft. Äusserliche Werte wie Einkommen, jugendliches Aussehen, materieller Wohlstand und sozialer Status verdrängen traditionelle Werte wie innere Unabhängigkeit, stabile Moralvorstellungen, kulturell verwurzelte Sicherheit, soziale Zugehörigkeit, Gemeinschafts- und Familiensinn. Studien zeigen, dass diese Veränderung in den Werten wesentlich für die Zunahme von gefühltem Stress, Schamgefühlen und Depressionen verantwortlich ist.

In meinem kürzlich im Schattauer-Verlag erschienen Buch «Resilienz: Der Wir-Faktor. Gemeinsam Stress und Ängste überwinden» zeige ich auf, wie wir dem veränderten sozialen und kulturellen Umfeld und den neuen Arbeitsbedingungen standhalten und neue Strategien und Lösungen erkennen können. Das Buch enthält viele praktische Tipps und Ratschläge.

Das Wichtigste

  • Der gefühlte Stress nimmt deutlich zu, weil die Anforderungen an die mentale Fitness stark zugenommen haben und gleichzeitig die soziale und kulturelle Widerstandskraft abgenommen hat.
  • Der «Psychoboom» ist eine verständliche Reaktion auf diese Herausforderungen.
  • Depressive Störungen müssen früh erkannt und entschlossen behandelt werden.
  • Die mentale Fitness sollte in der Abklärung und Behandlung von Angst, Burnout und Depression einen wichtigen Platz einnehmen.
  • Medikamente gegen Depressionen sollten je nach Wirkung auf die Kognition ausgewählt werden.
  • Das Hinterfragen materieller Werte und die Pflege lokaler sozialer Netzwerke tragen wesentlich zur Stärkung unserer seelischen Widerstandskraft bei.