Die Babyboomer-Jahrgänge kommen ins Alter. Als 68er haben sie wesentlich zu gesellschaftlichen Veränderungen beigetragen. Während die jetzt 65- bis 80-jährigen von frühen Kindheitserfahrungen in Armut und Not geprägt sind, trifft dies für die neue Generation 50+ nicht mehr zu. Allerdings wurden sie von Eltern erzogen, die oft ihre eigenen Wünsche nicht erfüllen konnten, weil die materiellen Voraussetzungen fehlten, und die eine Erziehung praktizierten, bei der die Gefühlsunterdrückung, besonders bei Männern, idealisiert wurde und bei der Autorität und Strenge oft mit körperlicher Gewalt einhergingen.
Liegt es an der fehlenden Anerkennung?
Im Erziehungsstil der 1950er-Jahre wurden die unerfüllten Wünsche der Eltern häufig an die Kinder delegiert: «Du sollst es einmal besser haben!» «Wenn du nicht lernst, wirst du Kanalarbeiter!» Möglicherweise ist ein Teil des wirtschaftlichen Erfolgs der Babyboomer-Generation auf diese Delegation zurückzuführen. Die Anerkennung für erbrachte Leistungen durch die Eltern fehlte jedoch oft, stattdessen wurden Neidgefühle offenbar: «Ich hätte auch gerne studiert, wir konnten uns das nicht leisten.» Um in einer solchen Beziehung von den Eltern Anerkennung zu bekommen, wurde der Ansporn, einen hohen beruflichen Einsatz bis zum Burn-out zu bringen, noch verstärkt. Der Konflikt zwischen eigenen Interessen und Potenzialen und der Delegation im Leistungsbereich bei fehlender Anerkennung könnte ein wesentlicher Grund für die Häufung von Depressionen bei der Generation 50+ sein.
Durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung und durch den medizinischen Fortschritt hat die Generation 50+ die Norm «Alles ist machbar» verinnerlicht. Wenn dann doch schon im mittleren Alter körperliche Einschränkungen kommen, wird dies gern als narzisstische Kränkung erlebt, was ebenfalls eine Depression auslösen kann. Vielleicht ist der Druck in dieser Generation häufig auch so gross, weil sie besser als ihre Väter sein müssen. In der 68er-Bewegung hat sich zwar ein Teil des Drucks zwischen den Generationen im Kampf gegen das Establishment entladen, jedoch haben viele, die die Einflussreichen damals kritisierten, sich in Führungspositionen etabliert und stehen jetzt selbst unter grossem inneren Druck.
Erhöhte Ansprüche ans Ich
Die neue Generation 50+ ist in der Zeit des Wirtschaftswachstums aufgewachsen und glaubt noch immer an Wachstum und Expansion. Im Gegensatz zu vorhergehenden Generationen fügen sich die Menschen dieser Altersgruppe weniger in definierte Rollen und brechen Beziehungen schneller ab, wenn sie nicht gewinnbringend sind. Sie sind eher ungeduldig, wenn ein sichtbares Ergebnis ihrer erbrachten Leistung fehlt. Wenn man sie aber in Entscheidungen mit einbezieht, sind sie gut zu motivieren. Sie gelten als gute Teamarbeiter und bauen leicht neue Beziehungen auf. Sie sind aber auch konfliktscheuer und reagieren empfindlich, wenn ihr Führungsstil oder ihre Ergebnisse kritisiert werden.
Ein weiterer Wesenszug ist ihre Ich-Bezogenheit. Sie identifizieren sich mehr mit Jüngeren als mit Älteren und lehnen Altersrollen stärker ab als Menschen aus Generationen vor ihnen. Eltern sind wenig attraktive Vorbilder für ein gelungenes Alter. Noch nie gab es so viele Schönheitsoperationen von alternden Frauen, und auch die Verkaufszahlen von potenzsteigernden Medikamenten zeigen, dass ältere Männer solche Potenzmittel kaufen, weil sie erhöhte Ansprüche an die eigene sexuelle Leistungsfähigkeit haben.
Wenn man Menschen der neuen Generation 50+ beschreibt, muss man zwischen männlichen und weiblichen Problemstellungen unterscheiden: Männer identifizieren sich stark mit ihrem Beruf, vor allem jene in höheren Positionen. Das kann bei Veränderungen in der Berufswelt zu erheblichen Problemen führen. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist ein Risikofaktor, der eine narzisstische Krise mit Beschädigung von Selbstwert und Selbstbild auslösen kann. Häufige Wechsel der beruflichen Rollen aufgrund der wirtschaftlich angespannten Situation sind weitere Risiken, weil sie Menschen einem hohen psychischen Druck aussetzen. Bei den Frauen dieser Generation führen unterschiedliche Aufgaben mit oft widersprüchlichen Forderungen zu Überlastung und Depression. Sie befinden sich oft in einer Sandwichposition und haben neben den beruflichen Anforderungen und dem Haushalt noch die Sorge um ihre Kinder und gleichzeitig um ihre Eltern oder Schwiegereltern zu tragen. Das sind alles Gründe, weshalb die Generation 50+ häufig von Depressionen und Burn-out betroffen ist. Werden Depressionen nicht behandelt, entstehen hohe Folgekosten. Depressionen sind auch mit einer hohen Rate an körperlichen Krankheiten verbunden, seien es Herzinfarkt oder Schmerzen. Ausserdem verschlechtern sie die Prognosen bei körperlichen Krankheiten.
Körperliche versus seelische Schmerzen
Viele psychische Probleme werden im Alter oft nicht erkannt oder dem Älterwerden zugeschrieben. Das ist bei Depressionen so, aber auch bei Angsterkrankungen. Seelische Ursachen von Schmerzen werden oft übersehen, weil körperliche Symptome im Vordergrund stehen, hinter denen sich seelische Schmerzen verbergen können. Deshalb bedürfen Schmerzen im Alter einer gründlichen Abklärung und einer Erhebung seelischer Hintergründe. So können frühkindliche Traumatisierungen, etwa durch Vernachlässigung, Missbrauch, Krieg oder Naturkatastrophen, das Schmerzerleben im Alter massgeblich beeinflussen. Aus psychotherapeutischer Sicht können Schmerzen bei älteren Menschen verschiedene Funktionen haben: Darstellung einer als schmerzhaft erlebten Vergangenheit, Ausdruck von Trauer, Entlastung von Depressionen, Angst oder Schuldgefühlen, aber auch die Erhaltung von bedrohten sozialen Kontakten.
In unserem Kulturkreis begehen von allen Altersgruppen alte Menschen am häufigsten Suizid. Besonders betroffen sind alleinstehende alte Männer. Menschen, die Suizid begehen, leiden in 90 Prozent der Fälle an behandelbaren Depressionen. Nachdenklich stimmt, dass in Kulturen, in denen das Alter wertgeschätzt wird, Suizide bei älteren Menschen um ein Mehrfaches geringer sind als in Europa und Nordamerika. Die Rolle alter Menschen in einer Spass- und Überflussgesellschaft ist offenbar diejenige einer Ballastexistenz. Dazu kommt, dass Sinn und Selbstwert in starkem Ausmass mit Leistung und Nützlichkeit verknüpft sind. Ebenso wird uns von Klein an der hohe Wert von Selbständigkeit und Unabhängigkeit vermittelt. Alle diese Dinge sind im Alter immer weniger und oft überhaupt nicht mehr vorhanden. Hier ist gesellschaftliches Umdenken notwendig, und der Anspruch, dass Arbeit und Nützlichkeit allein selig machend ist, zu überdenken.
Etwa ein Viertel aller älteren Menschen in der Schweiz leiden an seelischen Erkrankungen. Nur fünf Prozent derer, die Psychotherapie bräuchten, erhalten diese. Die Gründe dafür liegen sowohl bei den Betroffenen selber als auch bei den Therapeuten. Nachdem sie ihr Leben gemeistert haben, empfinden sie es oft als beschämend, Hilfe von einem Psychotherapeuten oder Psychiater in Anspruch nehmen zu müssen. Psychische Erkrankungen werden immer noch mit eigenem Verschulden und gesellschaftlicher Ausgrenzung gleichgesetzt.
Auf der Seite der Therapeuten herrschen oft noch die Vorstellungen Freuds von der Unbehandelbarkeit älterer Menschen. Nach Freuds Meinung fehlt bei Personen nahe oder über 50 Jahre die Plastizität der seelischen Vorgänge, auf welche die Therapie baut, andererseits verlängert das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlung ins Unabsehbare.
Inzwischen ist das alte Vorurteil Freuds längst widerlegt worden. Seine Enkelin Sophie Freud hat im ersten von mir herausgegebenen Buch zur stationären Psychotherapie die Aussagen ihres Grossvaters revidiert. Es gibt wissenschaftliche Studien, die belegen, dass ältere Menschen sogar mehr von einer Psychotherapie profitieren als jüngere. Ein bisher ungelöstes Problem ist allerdings, dass zu wenige spezifisch ausgebildete Fachleute zur Verfügung stehen.
Bei der psychotherapeutischen Behandlung haben sich die drei wichtigsten Methoden – Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und systemische Therapie – grundsätzlich auch im Alter bewährt, bedürfen aber gewisser Anpassungen. Auch wurden spezielle Behandlungsmethoden für Ältere entwickelt, etwa die interpersonelle Psychotherapie oder die kognitive Verhaltenstherapie. Neben intensiven Einzel- und Gruppentherapien sind auch kreative Therapien wie Gestaltungs- und Musiktherapie sehr hilfreich. Da ältere Menschen nicht immer gelernt haben, sprachlich zu äussern, was sie belastet, ist die Gestaltung von Bild und Ton eine Möglichkeit, Probleme sichtbar werden zu lassen und Lösungen aufzuzeichnen. Ergänzt werden die Behandlungen durch Entspannungsverfahren. Psychotherapie bei älteren Menschen ist nicht nur sinnvoll, sondern notwendig und erfolgreich.
Dr. med. Peter Bäurle, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Privatklinik Aadorf, ist Spezialarzt FMH Psychiatrie und Psychotherapie, speziell Alterspsychiatrie, und Mitglied der «European Academy of Medicin of Ageing».
Die Privatklinik Aadorf bietet älteren Menschen ein umfassendes, massgeschneidertes Psychotherapieangebot. Zur Behandlung werden Menschen mit Depressionen, Angsterkrankungen, Somatisierungsstörungen, Traumafolgen, Zwangserkrankungen und Burn-out-Syndromen aufgenommen. Die offene Privatstation ViaNova ist schwerpunktmässig auf ältere Patienten ausgerichtet.