Abrechnung mit der Unlust

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Hüpfende Hormone, überdrehende Fantasien, reizvolle Vorstellungen. «Viele Leute meinen, sexuelle Lust sei wie ein Zufallsgenerator, auf den man keinen Einfluss hat. Weit gefehlt. Lust ist nichts anderes als Vorfreude. Vorfreude auf etwas, das kommt», sagt die bekannte Zürcher Sexualtherapeutin Dania Schiftan. «Lust entsteht im Gehirn. Das Gehirn fragt sich, ob es sich lohnt, die sexuellen Erlebnisse wie gehabt zu wiederholen. Es rechnet knallhart und völlig logisch ab, nach Aufwand und Ertrag. Bewertet es das bisher Erlebte als lohnenswert, entsteht Lust auf mehr. Wird die Gesamtbilanz hingegen als negativ eingestuft, ist Unlust die Folge.»

Was bestimmt die Abrechnung des Gehirns? Dania Schiftan: «Ganz verschiedene Dinge können eine Rolle spielen. Je nach Alter des Mannes. Zum Beispiel muss er besonders in jungen Jahren gucken, dass er nicht zu schnell kommt, muss seine Begierde zurückhalten. Muss ertragen, die Steigerung der Reize auch mal zu unterbrechen. Dann muss er aber auch irgendwie dafür sorgen, dass seine Erektion trotzdem über die lange Zeit des Liebesspiels bestehen bleibt oder immer wieder aufgebaut werden kann. Der Mann kann im Gegensatz zur Frau nichts verbergen. Das alles ist Aufwand. Kommt hinzu: Je älter der Mann wird, desto mehr lässt seine spontane Erektionsfähigkeit nach. Wenn es für ihn zum Krampf wird, weil er vielleicht auch seinen eigenen Vorstellungen von Sexualität nicht mehr entsprechen kann, ist sein Aufwand zu gross.»

Art der Lustbefriedigung ist das Problem

Dann macht er lieber Selbstbefriedigung? Dania Schiftan: «Genau, die macht er noch mehr als vorher. Anders als beim partnerschaftlichen Sex kann er hier mit minimalem Aufwand zu körperlicher Befriedigung kommen. Die Lust auf sexuelle Erregung ist also noch vorhanden, nur die Art der Lustbefriedigung ist das Problem. Fragt sich, was für ihn beim Sex mit der Partnerin denn so anstrengend ist? Der Einbezug einer anderen Person erhöht natürlich den Aufwand. Die Partnerin möchte vielleicht noch gestreichelt werden. Oder er hat Hemmungen, sie einfach nur zu benutzen, weil es ihm nur um die Entladung geht. Vielleicht sind es auch seine Vorstellungen über die Wünsche der Frau. Oder die Erwartung an seinen eigenen Penis.»

Jeder ist der körperlichen Veränderung unterworfen

Jeder tickt anders. Aber jeder ist der körperlichen Veränderung unterworfen. «Mit 20 wurden die meisten Männer von Erektionen nur so überflutet. Jeden Tag. Zu passenden und unpassenden Gelegenheiten. Der Testosteron-Überschuss war gewaltig. Sie konnten zwei- bis dreimal hintereinander ejakulieren, mit nur fünf Minuten Pause. Um 30 herum merken sie, dass es auf einmal mehr braucht, bis sich etwas regt. Die Veränderungen gehen weiter. Man lebt in einer Beziehung, wird Vater, die eigene Frau verändert sich. Das Gefühl des Penis in der Scheide wird anders nach den Geburten. Auch die eigenen Hormone lassen nach. Mit der Zeit merken die Männer sehr wohl, dass der Penis nicht mehr in jedem Moment einfach steinhart wird. Und dass er nicht dauernd steht. Die einen sind schockiert und denken, morgen geht die Welt unter. Andere erkennen darin eine neue Dimension und Chance, weil die Empfindsamkeit eines nicht so harten Penis grösser sein kann.» Dania Schiftan erlebt es täglich in ihren Beratungen: «Frauen reden mit ihren Freundinnen über ihre Sorgen und Probleme. Es ist mir ein Rätsel, warum das Männer nicht tun.»

Sexueller Genuss nur mit Entspannung möglich

Sie haben es nämlich gleich doppelt schwer. Neben Unlust ist Überlastung ein Problem. Nach einem stressreichen Tag im Büro sind ihre Batterien abends leer. So leer, dass auch der Sex darunter leidet. Dania Schiftan: «Die Männer werden den ganzen Tag vom sympathischen Nervensystem angetrieben, sind kampfesbereit, überarbeiten sich, machen keine entspannende Mittagspause. Abends kommen sie erschöpft nach Hause. Der Parasympathikus übernimmt das Kommando. Jetzt lassen sie los. Doch eine derartige parasympathische Entspannung ist für den Sex nicht förderlich.» Warum nicht? Sex ist doch auch ein Genuss in entspannter Atmosphäre? Dania Schiftan: «Sexueller Genuss ist tatsächlich nur mit Entspannung möglich. Wie in den Ferien, wenn viele Männer merken, dass ihr Penis steifer ist und der Sex mehr Genuss bietet. Sexuelle Erregung und sexuelle Steigerung hingegen bedürfen einer gewissen Spannung. Das ist der entscheidende Punkt: Erfüllte Sexualität muss ein Wechselspiel von Spannung und Entspannung sein. Ist die Spannung zu gering, kommt keine Erektion zustande. Fehlt die Entspannung, entsteht kein Genuss.»

Bewegung beim Sex ist die Lösung

Nicht einfach, dieses Wechselspiel hinzubekommen, oder? «Im Gegenteil, ganz einfach sogar. Bewegung beim Sex ist die Lösung. Und zwar ideenreich, abwechselnd, flexibel. Weil jeder Muskel einen Gegenspieler hat, finden Spannung und Entspannung – also Erregung und Genuss – in Bewegung gleichzeitig statt. Ein Muskel ist in Aktion, sein Gegenspieler gelöst. Also nicht wie ein Brett auf der Frau liegen und immer im gleichen Takt rein und raus. Das wäre viel zu wenig. Schiebt der Mann wie ein Brett hin und her, ist er von den Knien bis unter die Achselhöhlen unbeweglich, und sein Penis minderdurchblutet. Die Empfindung nimmt ab, das Erlebnis wird schlechter. Diese Starrheit muss aufgeweicht werden.» Wie soll sich der Mann denn bewegen? «Das Becken ist Dreh- und Angelpunkt. Dort, wo der Körperschwerpunkt ist. Zum Beispiel in der Hunde-Stellung mit dem Penis in der Scheide kreisen, ihn seitlich an die Scheidenwand drücken, bewegen, berühren, und wie beim Salsatanzen aus der Hüfte heraus in Schwung kommen. Nicht einfach wie ein Presslufthammer draufloshämmern, sondern sich auch im Zentrum bewegen. Selbst wenn sie auf ihm sitzt, kann er ihre Bewegungen aus der Hüfte heraus unterstützen. Eine Welle geht durch den Körper. Ich vergleiche es gerne mit dem Käsefondue. Dort steckt man die Gabel mit dem Brot auch nicht einfach wie ein Messer in den Caquelon und zieht sie wieder raus. Man rührt mit Schwung, bewegt die Gabel in alle Richtungen, berührt den Caquelon überall. Das ist Genuss pur. Beim Fondue wie beim Sex.»

Im Stammhirn sind wir immer noch Neandertaler

Manche Leute werfen der Sexualtherapeutin vor, ihre Lösungen seien etwas zu technisch. Dania Schiftan: «Das scheint vielleicht so im ersten Moment. Ich sehe es darum auch nicht als Vorwurf. Wenn man sich mit der Materie tiefer auseinandersetzt, merkt man: Das ist reine Biologie. Erst kommt der Körper, dann die Emotion. Im Stammhirn sind wir immer noch Neandertaler. Schon bevor das urzeitliche Hirn einen Fluchtentscheid fällen konnte, musste der Körper dazu bereit sein. Der Körper hat also schon vorher alles antizipiert, erst dann interpretiert das Gehirn den Sachverhalt. Arbeiten wir also auch beim Sex getrost an der Technik, der Rest kommt von ganz alleine.»

Kontakt

Dania Schiftan ist Psychotherapeutin und klinische Sexologin. www.daniaschiftan.ch

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