Als Kind konnte ich noch gehen

Spinale Muskelatrophie

«Mein grösster Wunsch? Zugang zu einer Therapie, die den Verlauf meiner Krankheit stabilisiert!» Renate Bär, 37, Mathematikerin, ist auf einen Rollstuhl angewiesen und hat auch in den Armen wenig Kraft. Sie kann noch weitgehend selbständig in ihrer Wohnung leben. Beim Duschen, Putzen, Waschen erhält sie Hilfe von der Spitex und von Nachbarn. Seit April 2018 bezahlt die IV für Kinder und Jugendliche mit spinaler Muskelatrophie die Behandlung mit dem ersten für diese Krankheit verfügbaren Medikament. Erwachsene haben immer noch keinen Zugang zu dieser Therapie. Die Kostenübernahme für die Behandlung müsste bei ihnen über die Krankenkassen laufen, die Gesuche der Betroffenen werden aber in den allermeisten Fällen abgelehnt. So auch das Gesuch von Renate Bär.

«Als Kind konnte ich noch gehen», erzählt sie. Man stellte aber schon im Alter von gut zwei Jahren fest, dass etwas in ihrer Entwicklung nicht stimmte. Sie stand seltsam auf und liess sich beim Absitzen einfach fallen. Die Ärzte stellten daraufhin die Diagnose SMA Typ III. Die Kraft in den Beinen nahm im Primarschulalter stark ab, so dass sie mit 12 Jahren nicht mehr gehen konnte und seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

Viele Dinge brauchen immer mehr Zeit und Energie

Seither ging auch die Kraft in ihren Armen kontinuierlich zurück. Nach dem Mathematikstudium und einem Zwischenjahr hat sie einige Jahre an einer Mittelschule unterrichtet. Heute erteilt Renate Bär Nachhilfelektionen, teils bei ihr zu Hause, teils via Skype. Im Alltag brauchen viele Dinge immer mehr Zeit und Energie, und mit den abnehmenden Kräften wird vieles zusehends schwieriger. So stellen Kochen oder Geschirr spülen für sie mittlerweile eine grosse Anstrengung dar. Beim Duschen benötigt sie seit etwa zwei Jahren Hilfe.

Zurzeit ist sie dank einem umgebauten Auto noch mobil, doch wenn keine Behandlung ihrer Krankheit erfolgt, wird das Autofahren für sie schon bald nicht mehr möglich sein. «Das wäre eine grosse Einschränkung», sagt Renate Bär. «Ich müsste stets einen Behindertenfahrdienst organisieren. Spontanes Weggehen von zu Hause wäre nicht mehr möglich. Und mal erst um elf Uhr oder später nach Hause kommen, wäre auch sehr schwierig.» Ohne baldige Behandlung wird auch das selbständige Wohnen immer mühsamer. Es wäre zwar möglich, mit Hilfe der Spitex ins Bett zu gehen, aber das wäre ein riesiger Einschnitt in ihre Selbstbestimmung. Renate Bär müsste dann zu den Arbeitszeiten ihrer Helfer ins Bett.

Noch schwieriger würde es, wenn sie mehrmals am Tag auf Hilfe angewiesen wäre. Dann müsste sie fortan in einer Institution wohnen oder sich mit den Assistenzbeiträgen der IV als Arbeitgeberin selbst organisieren. «Neben all den persönlichen Einschränkungen wird diese Betreuung viel Geld kosten. Trotzdem – beide Argumente zählten nicht bei der Entscheidung, ob ich Zugang zu einer Therapie erhalte, die meinen jetzigen Zustand stabilisieren könnte.»

Fortschreiten der Krankheit könnte gestoppt werden

Die Situation ist für die Betroffenen sehr frustrierend: «Ich muss zuschauen, wie meine Kräfte stetig nachlassen, im Wissen, dass dieses Fortschreiten der Krankheit gestoppt werden könnte.» Sie fasst zusammen, dass während der Studie zum neuen Medikament die Resultate so gut waren, dass man es für ethisch nicht mehr vertretbar hielt, der Kontrollgruppe das Medikament vorzuenthalten, und so erhielten vorzeitig alle Probanden den Wirkstoff statt des Placebos. Nach der Zulassung müssen sich die erwachsenen Betroffenen hingegen nun mit formalistischen Argumenten hinhalten lassen.

Renate Bär betont, dass ihre eigene Situation im Vergleich mit anderen Betroffenen noch gut ist. Bei Menschen mit einem schwereren Verlauf der Krankheit geht es darum, dass sie in den nächsten Monaten die Fähigkeit zum selbständig Essen, Tastaturschreiben oder gar zum Gebrauch eines Touchscreens verlieren – mit all den Konsequenzen, welche dies für die Arbeitsfähigkeit und das persönliche Leben mit sich bringt, und auch mit den gesellschaftlichen Kosten, die dadurch anfallen. Dass man in solchen Situationen noch länger auf unbestimmte Zeit zuwarten müsse, bis eine Behandlung allenfalls möglich wird, sei sehr schwer zu ertragen. «Viele von uns haben gute Ausbildungen», sagt Renate Bär. «Durch das Fortschreiten der Krankheit bzw. durch die Nichtbehandlung wird es für uns als einzelne Personen immer schwieriger, uns mit unseren Fähigkeiten und Begabungen positiv in die Gesellschaft einzubringen, so, wie wir uns dies wünschen würden.»

In anderen Ländern werden die Kosten übernommen

«Es geht ja nur um 50 Menschen. Es kann doch nicht sein, dass es in der reichen Schweiz nicht möglich ist, diesen wenigen Leuten mit SMA das Medikament zu bezahlen. In Deutschland, Frankreich und Italien werden die Kosten für alle übernommen», sagt Renate Bär. Tatsächlich ist die Behandlung momentan noch extrem teuer. Aber es sind mehrere weitere vielversprechende Medikamente in Entwicklung, bei denen die Studien teils schon weit fortgeschritten sind. Man kann nur hoffen, dass dies zu einer Senkung der Preise führen wird.

Mehr Infos: www.sma-schweiz.ch