Beim «Fangis» konnte ich nie mitmachen

Je älter sie wurde, desto weniger Muskeln hatte sie. Erst vor sechs Jahren schöpfte Renate Bär neue Hoffnung.

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Als Kleinkind stand sie komisch vom Boden auf, als Kind lief sie komisch und mit zwölf lief sie gar nicht mehr. Renate Bär, 41, aus Gachnang TG leidet unter Spinaler Muskelatrophie sma. «Der Hausarzt dachte an eine ausgerenkte Hüfte, doch meine Eltern vermuteten sehr schnell, dass es sma sein könnte. Schon meine Grossmutter und meine Tante lebten damit. Bei ihnen war es eine milde Form, und auch bei mir nahm man an, dass die Krankheit mild verlaufen würde, weil ich schon mit 11 Monaten zu laufen begonnen hatte. Ich war etwa zweieinhalb Jahre alt, als man erste Hinweise bekam. Damals konnte man die Erbkrankheit noch nicht im Blut nachweisen, doch der Verdacht bestätigte sich trotzdem schnell.»

Im Turnunterricht zählte sie die Tore

Im Kindergarten war Renate Bär körperlich noch aktiv. Während der Primarschule wurde es immer schlechter. «‹Fangis› konnte ich nie mitmachen. Ich sackte einfach zusammen, wenn die Kraft ausging. Und Kraft hatte ich ohnehin viel weniger als alle anderen. Ich merkte auch, dass ich nicht mehr so weit gehen kann. Nur, wenn mich jemand stützte, ging es noch.»

Für Renate Bär war es normal, dass sie nicht alles konnte. «Ich wuchs auf dem Bauernhof auf. Wir hatten Milchkühe, Äpfel, Getreide. Ich war zwar bei einigen Arbeiten dabei, aber Äpfel auflesen in den Herbstferien war schon mühsam. Pro Korb bekamen wir 10 Rappen. Weil ich nicht so schnell war, wurde bei mir grosszügig aufgerundet. Ich habe dann immer ein Buch mitgenommen und gelesen, wenn ich erschöpft war. Meine Grossmutter hat mir als Kleinkind viel vorgelesen und so meine Liebe zu Büchern geweckt. Sie lebte im Stöckli. Ich wusste, dass wir die gleiche Krankheit haben, machte mir aber nicht allzu viele Gedanken. Sowieso habe ich die Krankheit verdrängt. In der Schule war es dann offensichtlich. Im Turnunterricht sass ich oft am Rand und zählte die Tore. Ab der Mittelstufe war ich dispensiert. Zuerst konnte ich noch mit dem Velo zur Schule, wobei das nur abwärts und geradeaus ging. Aufwärts hat mich eine Freundin geschoben. Später musste ich mit dem Auto gefahren werden.»

Mit 12 Jahren bekam Renate einen Rollstuhl

Mit zwölf Jahren wurde es schwierig. Renate bekam einen Rollstuhl. «Bis zum Schluss habe ich rebelliert. Als ich ihn dann hatte und ihn alle einmal gesehen hatten, war es gut. Meine Gspänli haben gut reagiert. Der Rollstuhl war sogar cool, denn im Winter benutzten wir ihn als Spielzeug. Jeder durfte sich mal hineinsetzen und mit Anlauf auf dem Eis herumschleudern.» Renate wollte Mathematik studieren und absolvierte daneben auch die Ausbildung zur Mittelschullehrerin. «Ich zog das durch, doch das Studium war sehr anstrengend. Nebst dem Pendeln zur Universität kostete mich die Bewältigung der üblichen Alltagsdinge viel Energie und Zeit. Meine Kraft schwand mehr und mehr. Ich hoffte, dass es eines Tages ein Mittel geben würde, das mir helfen kann, allerdings schien mir das damals eine Utopie zu sein.

Das Medikament kam zur richtigen Zeit

Vor sechs Jahren war die Forschung dann so weit! Am «sma Schweiz»-Tag wurde eine Injektion vorgestellt, die das Fortschreiten der Krankheit aufhalten könne. Bis das Medikament bei den Patienten in der Schweiz ankam, war es noch ein langer Weg, aber vor zwei Jahren bekam ich es, und zum ersten Mal in meinem Leben stagnierte die Krankheit. Nach vier bis fünf Monaten registrierten meine Physiotherapeutin und ich sogar leichte Verbesserungen. Ich hatte mehr Kraft und mehr Ausdauer in den Armen, konnte die Transfers vom Rollstuhl aufs WC oder vom Rollstuhl ins Bett besser machen. Jetzt wusste ich, dass es bei mir richtig gut wirkt. Das Medikament kam gerade zur richtigen Zeit.»

Das Leben ist leichter geworden

Heute ist Renate Bär voller Hoffnung. «Das Leben ist leichter geworden. Die Last der Zukunft ist weggefallen, zumindest was diese Krankheit betrifft. Alle vier Monate bekomme ich eine Injektion ins Rückenmark. Ich gehe in die Physiotherapie, mache Kräftigungs- und Dehnübungen, trainiere die Rumpfstabilität und das Gleichgewicht. Ich bleibe aktiv, gebe Nachhilfestunden in Mathematik, das geht gut. Einmal pro Woche hilft mir die Spitex beim Putzen der Wohnung. Zur Körperpflege habe ich schon seit einigen Jahren jeden Tag eine Hilfe. Ich habe ein elektrisches Bett, das mir beim Aufrichten hilft. Dank meinem Auto bin ich mobil. Ich kann mit dem Rollstuhl ohne fremde Hilfe hineinfahren und es komplett per Hand bedienen.»

Alle Betroffenen brauchen Hilfe

Als Patientin und Vorstandsmitglied von sma Schweiz hat Renate Bär aber noch ein Anliegen. «Es gibt immer noch Menschen mit sma in der Schweiz, die kein Medikament erhalten, entweder weil sie eine sehr schwere oder eine ganz milde Form haben. Die Krankenkassen sagen dann, es würde sich nicht lohnen. Ich finde solche Aussagen problematisch. Auch kranke und schwer eingeschränkte Menschen haben noch Freude am Leben, wenn man sie ihnen nicht nimmt.»

Spinale Muskelatrophie SMA

SMA ist eine seltene, fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, die sich durch ein breites Spektrum an Ausprägungen bei Kindern und Erwachsenen auszeichnet. Sie bewirkt einen fortschreitenden Verlust von Motoneuronen und in der Folge Muskelschwund, was schliesslich zum Verlust der Atemmuskulatur und zum Tod führt. Die Symptome sind von Mensch zu Mensch verschieden. SMA kann alltägliche Aktivitäten wie atmen, essen, umarmen, greifen, nicken, sitzen und gehen beeinträchtigen.

SMA Schweiz ist die Schweizerische Patientenorganisation für spinale Muskelatrophie SMA. Sie setzt sich dafür ein, dass Therapien für Betroffene möglichst schnell vom Labor zum Patienten gelangen. Hierzu arbeitet SMA Schweiz national und international mit allen Interessensgruppen eng zusammen und vertritt die Anliegen der Betroffenen.

[email protected]
www.sma-schweiz.ch

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 24.11.2022.

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