Sie sind über 90 Jahre alt, arbeiten immer noch als Psychotherapeutin und schreiben Bücher. Wie machen Sie das?
Als Erstes muss ich sagen, dass ich mit einer guten Vitalität gesegnet bin. Wenn man körperlich gesund ist, geht im Alter vieles leichter. Aber auch ich hatte Mühe mit dem Älterwerden, und ich habe es lange verdrängt. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo man sich damit auseinandersetzen muss.
Wie war das bei Ihnen?
Als ich immer mehr Falten bekam, habe ich eine Zeit lang einfach nicht mehr in den Spiegel geschaut. Das ist natürlich keine wirklich gute Strategie. Eines Tages sah ich mich aber per Zufall in einem grossen Spiegel von Kopf bis Fuss, mit all meinen Falten. Und der Zwanziger ist gefallen. Ich realisierte, dass ich eine neue Überschrift brauchte. Die Jugend und die Schönheit konnten es nicht mehr sein. Und mir ist ein neues Stichwort eingefallen: Würde. Bis jetzt ist es mein Leitmotiv für mein Leben als alte Frau.
Was haben Sie sonst noch getan?
Am Anfang habe ich viel über das Thema gelesen. Die Aussichten waren ziemlich trüb, zumindest in der Literatur: Die Frauen wurden traurig und die Männer zu Säufern (lacht). Ich fand: So nicht und beschloss, selber ein Buch zu schreiben. Eines, das zuversichtlich stimmt. Damals war ich 70 Jahre alt.
Was sind die Hauptbotschaften in Ihrem ersten Buch?
Es ist ganz wichtig, dass man sich nicht in eine Ecke setzt, nur noch abwartet und sich von der Welt verabschiedet. Im Gegenteil, man sollte herausfinden, wie man sein Alter gestalten möchte.
Wie macht man das?
Indem man sich gute Vorbilder sucht. Das ist gar nicht so einfach in einer Gesellschaft, in der alles jugendlich, schnell und leistungsfähig sein muss. An meinen Vorträgen sagte ich oft: «Wir können uns als kostbare Antiquität anschauen. Die stellt man nicht einfach in den Regen. Man pflegt sie, auch wenn sie ein paar Schrammen hat. Die Gesellschaft mustert die Alten aber aus.»
Will auch deshalb niemand alt werden?
Ja. Wir verbinden das Alter mit Abbau, man gehört zum Alteisen und ist nicht mehr viel wert. Das ist ein strukturelles Problem. Das Alter ist bei uns verpönt, anstatt respektiert wie in anderen Kulturen. Und die Digitalisierung macht es nicht einfacher.
Wie meinen Sie das?
Das digitale Zeitalter hat die Alten überholt, und ich stelle immer wieder fest, dass das nicht meine Welt ist. Das kann schon dazu führen, dass man sich als alter Mensch etwas abgehängt vorkommt. Das ist, als sollte man lesen, ohne das Alphabet zu kennen. Trotzdem ist es kein Grund, sich deswegen minderwertig zu fühlen. Wir müssen nicht mit Jüngeren konkurrenzieren, sondern unseren Wert hochhalten und darauf stolz sein.
Kommen viele ältere Personen zu Ihnen in die Therapie?
Ja, vor allem Paare. Die sind froh, dass ich noch mehr Lebenserfahrung habe als sie. Bei den Männern ist oft die Potenz das Problem. Auch da braucht es Aufklärung. Es geht nicht nur darum, dass man für immer ein Hirsch im Bett ist. Man sollte auch sehen, was man im Leben alles geleistet hat. Dann kommt man sich wieder wertvoller vor.
Warum möchte man unbedingt jung bleiben?
Das ist der gesellschaftliche Wahn. Männer wollen ewig potent sein, Frauen rennen einem schlanken und faltenlosen Schönheitsideal hinterher. Wenn sich Frauen selber nicht mehr attraktiv finden, können sie die ganze zweite Lebenshälfte damit verbringen, die Spuren der ersten Jahre zu verwischen. Aber letztlich ist das unmöglich.
Wie macht man es besser?
Um körperlich gesund und fit zu bleiben, gibt es etliche gute Bücher und Ratgeber. Auf der geistigen Ebene rate ich immer: Bleibt läbig! Das heisst, dass man sich immer interessieren und inspirieren lassen sollte. Und ganz wichtig ist auch der seelische Aspekt. Die Einsamkeit nimmt seit der Überindividualisierung und Verstädterung zu. Das Alter ist wirklich kein Zuckerschlecken. Man darf es nicht idealisieren. Es bringt sehr herbe und bittere Erfahrungen mit sich wie zum Beispiel der Verlust von langjährigen Weggefährtinnen.
Was hilft?
Resilienz. Sie zeigt, wie ich mit schweren Dingen und Schicksalsschlägen umgehen kann. Man muss sie immer wieder aufbauen und ins Vertrauen gehen, nicht in die Verzweiflung.
Haben Sie ein Beispiel?
Ja, es gibt zwei giftige Sätze im Alter: «Das lohnt sich nicht mehr für mich.» und «Früher war alles besser.» Klar war es früher anders, aber mit dem kommt man nicht weiter. Man muss im Moment leben und sich den guten Dingen zuwenden, das bringt Zuversicht.
Was ist im Alter besser?
Ah, da gibt es ganz vieles (lacht). Man verliert zwar die Jugendlichkeit, das faltenlose Gesicht und seine ursprüngliche Haarfarbe, dafür gewinnt man einen erweiterten Horizont mit viel Lebenserfahrung. Man weiss, wie es etwa zugeht auf dieser Welt. Mich selber gut zu kennen, die Schatten- und Sonnenseiten, das gibt Gelassenheit und einen inneren Frieden. Und im besten Fall eine grosse Dankbarkeit für das, was man hat, was einem begegnet ist und für das, was man jeden Tag noch erleben kann.
Darf man als alter Mensch noch träumen?
Man muss sogar! Nur noch nüchterner Realist zu sein, ist nicht gut. Es gibt genug Schönes auf der Welt. Das heisst auch, dass man die Hoffnung nicht aufgibt. Jede Person kann entscheiden, was für ein alter Mensch sie sein will und an welchen Träumen sie festhalten möchte. Und dabei sollte man nie vergessen: Auch die kleinen Sterne leuchten.
Jetzt. Tagebuch einer Neunzigjährigen

In einer Welt, die von der Eile des Alltags beherrscht wird, lädt dieses Buch dazu ein, die Gegenwart zu feiern.
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