Wenn die Seele zerspringt

Suizid

In der Schweiz begehen jedes Jahr 1000 Menschen Suizid. Gedanken einer Leserin, die ihren Partner im letzten Frühjahr verlor.

Es ist immer schlimm, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es ist besonders schlimm, wenn es unvorbereitet geschieht, wie bei einem Unfall. Doch was ist, wenn ein geliebter Mensch aus eigenem Willen geht? In dem Augenblick, als mein Verstand realisierte, was ich vor mir sah, als die Zahnräder meines Bewusstseins ineinandergriffen, zersprang meine Seele mit einem lauten Klirren in Tausende Stücke. Es ist wie ein Schweben im luftleeren Raum. Man will, ja man kann gar nicht begreifen, was los ist. Das Bild brennt sich in die Seele ein wie ein greller Blitz, den man auch später noch mit geschlossenen Augen sieht. Ich habe nicht nur meinen Partner verloren, auch meinen besten Freund, einen Seelenverwandten, der mir in schwierigen Zeiten Trost spendete und mir viel Hoffnung und Zuversicht gab.­

Immer und immer wieder drehen sich dieselben Fragen im Kopf, quälend und hartnäckig: Was habe ich nicht mitbekommen, dass so etwas geschehen konnte? War ich zu blind? Zu egoistisch? Zu selbstbezogen? Was hätte ich tun können, um dies zu verhindern? Weshalb konnte ich ihm nicht den Halt geben, den er so dringend gebraucht hätte? Weshalb konnte ich ihm nicht genug Trost spenden, nicht die Hoffnung geben, die er mir so oft gegeben hat? Wir hatten doch noch so viele Pläne, so viel in die Wege geleitet. Weshalb nur, und weshalb jetzt?

Nein, ich habe das nicht kommen sehen. Nein, ich habe nichts geahnt. Dennoch, diese Fragen werden gestellt. Von mir, von meinen Nächsten und von einigen mutigen Aussenstehenden. Natürlich, im Nachhinein interpretiere ich manches anders. Es ging ihm nicht gut, es ging ihm aber auch schon schlechter, und er hat seinen Weg wieder gefunden, er war ein Kämpfer; einer, der nicht aufgibt. Man dreht und wendet die letzten Tage und Stunden immer und immer wieder im Kopf auf der Suche nach einem Hinweis, einer Bemerkung, nach irgendetwas, das auf das Kommende hingedeutet hätte. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, Unbegreifliches erklären zu wollen.

Die Reaktionen aus dem Umfeld fielen unterschiedlich aus, sie waren und sind auch immer noch schwer zu deuten. Eine verwundete Seele ist so empfindlich und zerbrechlich. Eine unbedarfte Bemerkung, eine gut gemeinte, doch taktlos empfundene Frage, verschiedene Ratschläge, sie alle sind wie Messerstiche ins Herz.

Mein Kopf weiss, die Welt dreht sich weiter, doch für mein Herz und meine Seele scheint sie stillzustehen. Manchmal möchte ich einfach herausschreien, dass nichts mehr ist wie es war, und es nie mehr sein wird wie vorher und nichts und niemand diesen Schmerz zu lindern vermag. Und obwohl ich ein spiritueller Mensch bin und an ein Leben nach dem Tod glaube – es half mir anfänglich nicht, meinen Schmerz zu lindern.

Ich habe inzwischen gelernt, dass viele Menschen mit dem Thema Tod überfordert sind. Besonders, wenn es sich um diese Art von Sterben handelt, dem Tabu Suizid.

Inzwischen kann ich das akzeptieren, ich bin selber masslos mit dieser Situation überfordert, weshalb sollte dies für eine mitfühlende Person nicht auch so sein?

Ich habe das nicht immer so gesehen. Ein lieber Mensch hat in mir dieses Licht aufgehen lassen. Es braucht Zeit, um einen Schritt zurückgehen zu können, und um das ganze Bild zu sehen.

Es ist seltsam. Manchen Menschen bin ich näher gekommen als vor diesem einschneidenden Erlebnis, und zu manchen vorher sehr wichtigen Menschen in meinem Leben hat sich die Beziehung distanziert. Sicher ist nur, dass ich ohne meine Familie das Erlebte bis jetzt nicht hätte durchstehen können.

Inzwischen ist etwas Zeit vergangen, der Nebel lüftet sich langsam. Es schmerzt immer noch, und ich nehme mir abends bewusst Zeit, um zu trauern, damit ich tagsüber gesellschaftstauglich funktionieren kann. Es gibt Tage, da sehe ich Licht am Ende des Tunnels – die Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft. Es gibt aber auch Tage, da kann ich aus den Fragen, dem Hinterfragen nicht ausbrechen.

Der Verein Refugium hilft mir sehr. Dort finde ich Zuflucht und Verständnis. Mitbetroffene helfen in dieser schweren Zeit. Es ist heilsam, sich mit Menschen auszutauschen, die wissen, wovon man spricht, sei es in der Gruppe oder in Einzelgesprächen. Ich muss nun lernen, mein Leben weiterzuleben. Was sich so logisch anhört und sich einfach schreibt, ist in Wahrheit nur schwer umzusetzen. Wir hatten doch so viele Pläne und Träume, ich habe an unsere Zukunft geglaubt und darauf aufgebaut. Nun fühle ich mich um unsere Zukunft beraubt, betrogen um die gemeinsame Zeit. Nein, ich bin nicht wütend auf ihn, aber unendlich traurig.

Mein Liebster begleitet mich immer noch jeden Tag, ich denke so oft an gemeinsam Erlebtes, Schönes, Aufregendes, Stilles, auch Schwieriges und Trauriges. Er fehlt mir unheimlich, und ich vermisse ihn sehr. Und so gehe ich weiter, Schritt für Schritt, in der Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht, dass es irgendwann nicht mehr so schmerzt.

Refugium – Verein für ­Hinterbliebene nach Suizid

Der Verein Refugium bietet einen Zufluchtsort für Menschen, die einen Partner oder eine Partnerin oder eine ihnen nahe stehende Person durch Suizid verloren haben. Sorgen und Trauer können mit Gleichbetroffenen geteilt werden. Es entstehen Quellen für ein neues Leben, das zu leben wieder lebenswert ist.

www.verein-refugium.ch