Das macht uns wütend und traurig

Für Eltern gibt es kaum eine schlimmere Diagnose als spinale Muskel­atrophie. Obwohl es jetzt endlich ein wirksames Medikament gibt, erhalten nur Kinder und Jugendliche in der Schweiz die lebensrettende Therapie.

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Obwohl es zum ersten Mal ein Erfolg versprechendes Medikament gegen spinale Muskelatrophie gibt, werden viele Betroffene in der Schweiz nicht behandelt und müssen erleben, wie ihre Körper von Tag zu Tag schwächer werden, wie jeder Handgriff schwieriger und jeder Atemzug anstrengender wird. Severin Bischof erlebt diese Situation. Der 31-jährige Elektrorollstuhlfahrer ist bei der Körperpflege, beim An- und Ausziehen, beim Duschen und vielen weiteren Alltagshandlungen auf fremde Hilfe angewiesen. Seit einigen Jahren muss er in der Nacht beatmet werden.

«Nur dank meiner Primarlehrerin durfte ich in die Regelschule, damals mussten Kinder mit einer Behinderung noch in eine Sonderschule», erzählt der Rechtsanwalt mit Doktortitel. Während seines Studiums lebte er in einer Institution für Menschen mit einer Körperbehinderung. Als 2012 der Assistenzbeitrag der IV eingeführt wurde, zog er mit seinem Bruder, der mit einer milderen Form von spinaler Muskelatrophie lebt, in eine eigene Wohnung. «Ich führe ein autonomes Leben, meine zwölf Angestellten teilen sich meine Pflege und die Hilfe im Alltag.» Meistens denkt er nicht an seine Behinderung. Im Kindesalter war es für ihn normal, nicht gehen zu können. «Ich habe schnell und gerne lesen gelernt und in Büchern viele Fantasiewelten besucht. Dort gab es keine Einschränkungen.» Jedoch gab es auch Schattenseiten, weil er an vielen ausserschulischen Aktivitäten mit seinen Kameraden nicht teilnehmen konnte.

Heute kämpft Severin Bischof immer öfter mit seinem je nach Tagesform schwankenden Kräftehaushalt und mit Handgriffen, die zuvor selbstverständlich waren. Ob er eine Gabel zum Mund führen kann, hängt davon ab, wie viel er aufgeladen hat. «Es ist ein Kampf, für den ich pro Mahlzeit regelmäs­sig über eine Stunde benötige. Ich nehme deshalb nur noch ungern an Essen auswärts teil. Es ist mir peinlich, auch beim Essen immer mehr auf fremde Hilfe angewiesen zu sein.»

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Severin Bischof, 31, Rechtsanwalt, lebt mit spinaler Muskelatrophie und ist auf den Elektrorollstuhl angewiesen.

Severin Bischof kann sich noch gut erinnern, dass seine Eltern mit ihm einen Wunderheiler aufsuchten, als er noch ein Kind war. Genützt hat es nichts. Das war vor einem Vierteljahrhundert, als die spinale Muskelatrophie noch unbehandelbar war und eine drastisch verkürzte Lebenserwartung bedeutete.

Lebensrettende Therapie

Ein richtiges Wunder erlebt dagegen der 17 Monate alte Janis. Er darf an einem Härtefallprogramm der Herstellerfirma teilnehmen und erhält als einer der wenigen Schweizer die lebensrettende Therapie. Es war wenige Tage vor Weihnachten 2016, als Janis Eltern aufgelöst und völlig zerschlagen das Spital verliessen. Wie sollten sie diese Nachricht ertragen? Sie hielten ihr Kind in den Armen, es lächelte, aber schon in einem Jahr sollte es nicht mehr da sein. Unvorstellbar. «Der Arzt machte uns keine Hoffnung. Janis würde seinen ersten Geburtstag kaum erleben.» Die Diagnose spinale Muskelatrophie ist verheerend. Die Erkrankung schreitet unaufhaltsam fort, zuerst sind Arme und Beine betroffen, am Schluss steht der Erstickungstod.

Zuversicht und Hoffnung

Die Eltern nahmen ihr Schicksal in die Hand und stiessen auf die Patientenorganisation SMA Schweiz. Der Kontakt mit der Präsidentin Dr. Nicole Gusset brachte ihnen Zuversicht und Hoffnung. «Da war endlich dieser Strohhalm, an den man sich in seiner Aussichtslosigkeit zu klammern versucht. Und wir waren nicht mehr allein.» Die Familie wurde über das Härtefallprogramm in Freiburg im Breisgau aufgeklärt: Kinder könnten ihren Kopf wieder halten, Arme und Beine bewegen, in Rollstühlen sitzen, gar Kindergarten oder Schulen besuchen.

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Janis ist 17 Monate alt und lebt seit seiner Geburt mit spinaler Muskelatrohie. Die Ärzte gaben ihm nicht mal ein Jahr.

Gleich zu Beginn des neuen Jahres erhielten sie einen Termin in Freiburg. «Zum zweiten Mal hatten wir das Gefühl, aufgehoben und nicht alleine zu sein.» Die Therapie startete und Janis machte kleine Fortschritte. Als er zum ersten Mal sein Ärmchen heben konnte, war das ein Freudentag für die ganze Familie. Zuversicht kam auf, da gab es nicht mehr nur diese Einbahnfahrt mit dem unvorstellbar schlimmen Ende. Janis konnte einen herrlichen Frühling und gar sein erstes Bad im See erleben.

Später bekam Janis eine schwere Lungenentzündung, die seine Fortschritte arg hemmte. Hatte er seinen Schoppen vorher problemlos getrunken, konnte er nun plötzlich nicht mehr schlucken und musste mit einer Magensonde ernährt werden. «Autofahren durften wir nur zu zweit. Der eine fuhr, der andere hantierte mit dem Saugapparat, damit Janis nicht erstickte.» Da das Schluckproblem weiter besteht, erhält Janis seine Nahrung via Sonde nun direkt durch die Bauchwand in den Magen.

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«Janis ist lustig und lebensfroh. Manchmal staunen wir, mit welcher Geduld der kleine tapfere Mann die oft sehr unangenehmen Massnahmen hinnimmt.» Während Janis vor der Therapie nur noch seinen Kopf bewegen konnte, kann er inzwischen greifen und spielen. Er blättert die Seiten eines Kinderbuches selber um, ahmt Geräusche von Tieren nach, singt und plaudert Kauderwelsch. Zur Musik macht er Bewegungen mit Armen, Beinen und Hüften. Beim Gitarrenspiel klopft er den präzisen Takt mit einem Hämmerchen auf einem Spielzeug. Janis hat sich von seiner Lungenentzündung wieder erholt und hat mehr Kraft in seinen Beinen und Armen. Er dreht sich am Boden sogar auf die Seite. Etwas, das ohne Therapie wahrscheinlich nie möglich gewesen wäre.

Lösung muss gefunden werden

Die Zulassung dieser Therapie machte auch Severin Bischof und vielen anderen Betroffenen grosse Hoffnung. Vielleicht würde er anstatt mit Spracherkennungssoftware wieder mit der Tastatur schreiben können, eine Tätigkeit, die für seinen Beruf enorm wichtig ist. Doch die Realität holte alle schnell ein. «Der hohe Preis führt dazu, dass mir und den meisten anderen Erwachsenen in der Schweiz das Medikament nach wie vor nicht bezahlt wird. Das frustriert mich und macht mich ratlos. Wir verlangen von beiden, von der Pharmaindustrie und von den Behörden, im Interesse der Betroffenen eine Lösung zu finden.»

Die Krankheit

Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, bei der Nervenzellen im Rückenmark absterben und immer weniger Bewegungsimpulse an die Muskeln gesendet werden. Dadurch nimmt die Funktion der Muskeln kontinuierlich ab. Laufen, Krabbeln, Sitzen, Kopfkontrolle, Schlucken und Atmen werden für Betroffene, falls sie es je erlernt haben, zunehmend schwieriger. Die Ausprägung und der Krankheitsverlauf sind sehr individuell, wobei sehr schwer betroffene Kleinkinder oft nicht einmal das zweite Lebensjahr erreichen. Am anderen Ende des Spektrums stehen Betroffene, bei denen die Krankheit erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird. In der Schweiz sind rund 100 Personen im offiziellen Register für spinale Muskelatrophie eingetragen.

Die Patientenorganisation SMA Schweiz setzt sich dafür ein, dass die Bedürfnisse der Betroffenen in die Entwicklung von Therapien einfliessen. Dazu arbeitet die Patientenorganisation mit den am Entwicklungsprozess beteiligten Interessensgruppen national und international zusammen. Die Organisation fordert, dass die Stimme der Patienten überall dort gehört wird, wo über deren Leben entschieden wird.

Nach einem offenen Brief der SMA Schweiz an Bundespräsident Berset wurde die neue Therapie für Kinder und Jugendliche endlich auch in der Schweiz zugänglich gemacht. Für Erwachsene dagegen bleiben die hohen Hürden nach wie vor bestehen. SMA Schweiz fordert, im Interesse aller Betroffenen – unabhängig von Alter und Ausprägung – eine Lösung zu finden.

www.sma-schweiz.ch

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 24.05.2018.

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