Von niemandem verstanden und ernst genommen

Besser alt werden Lektion 9. Weshalb erkranken so viele alte Menschen an einer Depression? Wie erkennt und behandelt man sie rechtzeitig?

Depression im Alter Sprechstunde Doktor Stutz Urheber bilderstoeckchen
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Depressionen im Alter haben viele Gesichter. Sie sind häufiger als jede andere Krankheit in dieser Lebensphase. Von den über 65-Jährigen, die zu Hause leben, haben rund zehn Prozent eine behandlungsbedürftige Altersdepression. Von den in Alters- und Pflegeheimen lebenden Menschen sind es bis zu 40 Prozent. Obwohl Depressionen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt gehören, wird nur rund die Hälfte richtig diagnostiziert. Bei Senioren sind es nicht einmal 40 Prozent. Kommt dazu, dass alte Menschen mit psychischen Problemen oft falsch behandelt werden, indem sie mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln ruhiggestellt oder aber als unbequeme Heimbewohner eingeschlossen werden.

Ein tiefgreifender Wertewandel

Der alternde Mensch sieht sich mit einer Vielzahl von weitreichenden Veränderungen und Herausforderungen konfrontiert. Soziale, berufliche, gesundheitliche und menschliche Verlusterlebnisse, Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte und so weiter. Besonders mit dem Wertewandel der 60er-Jahre erlebte die heutige, ältere Generation eine tiefgreifende Veränderung und Zusammenbruch ihrer Ideale und Werte. Eine Depression im Alter kann demnach auch ein unbewusster Versuch sein, eingetretene Verluste nicht akzeptieren zu müssen und Trauer zu umgehen.

Das alte Prinzip Zucht und Ordnung

Ein grosses Verhängnis für viele ältere Leute ist, dass sie nie gelernt haben, ihre Bedürfnisse und Vorstellungen zu formulieren und sie durchzusetzen. Eine Erziehung nach dem Prinzip Zucht und Ordnung sowie Unterwerfung setzen sich im Alter besonders bei Pflegebedürftigkeit fort. Die junge Generation hat zudem ein meist defizitäres Altenbild. Das hat für das Selbstbild alter Menschen verheerende Auswirkungen und begünstigt eine Altersdepression.

Die meisten depressiven älteren Menschen äussern fast ausschliesslich körperliche Beschwerden. Zudem sind die psychischen Symptome einer Depression im Alter oft anders als bei jüngeren Betroffenen. Nicht Niedergeschlagenheit oder gedrückte Stimmungslage stehen im Vordergrund, sondern vor allem ängstliches Klagen und körperbezogene Sorgen. Beschwerden, mit denen man schon jahrelang gelebt hat, werden typischerweise überbewertet. Das „ewige Jammern und Klagen“ kann dazu führen, dass Angehörige, Pflegepersonal und Ärzte nicht mehr zuhören. Weitere typische Äusserungen einer Depression im Alter sind Kraft- und Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Schmerzen.

Das Gefühl, etwas versäumt zu haben

Eine andere, grosse Schwierigkeit vieler alter Menschen ist die Unfähigkeit, über Gefühle und ihr Befinden zu sprechen. Den Betroffenen ist nur selten bewusst, dass sie an einer Altersdepression erkrankt sind. Oft kreisen ihre Gedanken um ganz andere Dinge wie zum Beispiel um die Sorge, ob die Rente oder die Ersparnisse noch bis ans Lebensende reichen werden. Vor allem am Morgen fühlt sich ein Mensch mit Depressionen oftmals schlecht. Er wirft sich vor, im Leben viel versäumt zu haben, fühlt sich müde und kraftlos. Das Essen schmeckt nicht mehr, alltägliche Verrichtungen sind nur noch eine Last. Mit seinen Sorgen fühlt er sich von niemandem verstanden und ernst genommen.

Bei einer depressiven Erkrankung im Alter muss immer das Risiko für einen Suizid bedacht werden. Selbsttötungen im Alter werden selten thematisiert. Dabei bringen sich im Verhältnis mehr Menschen im hohen Lebensalter um als junge Menschen. Besonders gefährdet sind über 75-jährige Männer.

Die eigene Lebensgeschichte annehmen

Die Behandlung von Altersdepressionen sollte auf ganz verschiedenen Ansätzen beruhen. Am wichtigsten sind eine umfassende soziale Unterstützung, möglichst viele zwischenmenschliche Kontakte, angepasste neue Aufgaben sowie eine gute Tagesstruktur. Auch der alte Mensch hat ein Recht darauf, ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft und in irgendeiner Form „nützlich“ und „produktiv“ zu sein. Sehr hilfreich sind auch Gesprächs-, Verhaltens- und Psychotherapie. Wichtigstes Ziel sind die Annahme der eigenen Lebensgeschichte und die Bewältigung aktueller Probleme. Der Einsatz von Antidepressiva muss in jedem Fall gut bedacht werden, da die meisten älteren Menschen ohnehin schon eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen müssen.

Bei einer Depression im Alter ist unbedingt darauf zu achten, wie sich das Körpergewicht entwickelt. Die mit der Depression typischerweise einhergehende Appetitlosigkeit ist eine der häufigsten Gründe für Mangelernährung, Schwäche, Infektionen, Stürze und Knochenbrüche etc. im Alter.

Die Lektionen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 8 von „Besser alt werden“ finden Sie hier:

Lektion 1
Lektion 2
Lektion 3
Lektion 4
Lektion 5
Lektion 6
Lektion 7
Lektion 8

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 23.11.2023.

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