Ein ausgeklügeltes Behandlungsdispositiv, totale Vernetzung und auf dem neusten Stand der Wissenschaft. Zu Besuch bei Dr. Andreas Baumann, Neurologe in Langenthal.
Open end. So umreisst Dr. Andreas Baumann sein Vorgehen, wenn er einem Patienten die Diagnose Multiple Sklerose eröffnen muss. «Ich lade den Betroffenen gegen Abend ein, so dass ich genug Zeit habe. Häufig sind auch die Angehörigen dabei.» Auch heute löse schon die Vorahnung auf diese Krankheit immer noch sehr grosse Ängste aus. «Gerade deshalb bin ich im Gespräch immer sehr offen, ehrlich und direkt. Meine Patienten haben sich schon längst über alle möglichen Szenarien informiert und wollen von mir die Wahrheit und die Fakten hören. Ich sage ihnen, was ich weiss. Ich sage ihnen aber auch, wenn ich etwas nicht oder noch nicht weiss.» Wie reagieren die Betroffenen auf die Eröffnung der Diagnose? «Die Reaktionen reichen von Erleichterung über tiefe Trauer bis hin zu einer Depression. Gemeinsam mit dem Patienten und seinem Hausarzt versuchen wir, uns dieser Trauerreaktion zu stellen.»
Gibt es ein Leben mit MS? Gibt es inzwischen wirksame Therapien oder vermögen sie den Verlauf nur ein paar Jahre zu verzögern, um dann ihre Wirkung zu verlieren? «MS ist nach wie vor nicht heilbar. Aber wir haben heute mehrere Pfeile im Köcher, so dass wir in vielen Fällen den Krankheitsverlauf gut kontrollieren können. Meine Botschaft am Ende einer Diagnose-Eröffnung ist immer dieselbe: Niemand von uns weiss, was morgen ist. Leben Sie deshalb Ihr Leben, und zwar heute. Mit Ihrer MS, trotz MS oder gerade wegen der MS. Geben Sie der Multiplen Sklerose nicht mehr Raum als sie ohnehin hat. Gehen Sie Ihrem Beruf nach, verwirklichen Sie Ihre Pläne für eine Familie, wie wenn es die MS nicht gäbe.»
Das sind mutige Worte. Aber sie kommen an. Weil Dr. Baumann mit seinem zehnköpfigen Team das lebt, was er sich wünschen würde, wenn er selber von MS betroffen wäre: Ein ganzheitliches Konzept zur Diagnose und Therapie dieser Erkrankung, an der in der Schweiz um die 10 000 Menschen leiden. Mehr als 100 von ihnen betreut er in seiner Praxis. «Es ist unser Ziel, den Patienten den höchsten Standard der aktuellen Diagnostik und Therapie anzubieten. Wir kümmern uns um eine schnelle Abklärung und kontinuierliche Behandlung. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Hausarzt, mit Akutspitälern und Rehabilitationskliniken sorgen wir für eine systematische Vernetzung von ambulanter und stationärer Behandlung.»
Im Klartext bedeutet das die permanente Bereitstellung eines ganzen Dispositivs, um zu agieren und vorauszuschauen anstatt nur zu reagieren. Denn wie bei kaum einer anderen Krankheit gilt bei Multipler Sklerose: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Gemeint sind damit Krankheitsschübe, die unbehandelt bleibende Narben und neurologische Ausfälle hinterlassen können. Genau das kann eine engmaschige Verlaufskontrolle zu einem grossen Teil verhindern. Auffallend ist auch, wie stark Dr. Baumann bei der Betreuung der MS-Patienten den Hausarzt mit einbezieht. «Es ist nicht unser Ziel, uns zu verselbständigen. Wir können und wollen den Hausarzt nicht ersetzen. Er ist und bleibt der wichtigste Ansprechpartner der Patienten.»
Grosse Hoffnung legt Dr. Baumann in die zahlreichen neuen Therapien, die unmittelbar vor der Zulassung stehen, seien es neue Tabletten, Injektions- oder Infusionspräparate. «Sie ermöglichen uns eine zielgerichtete und massgeschneiderte Therapie, die bis vor Kurzem kaum möglich schien. Wo wir früher Kompromisse eingehen mussten, haben wir heute Behandlungsalternativen. Allerdings werden die Anforderungen an die behandelnden Ärzte steigen. Wer mit dem Fortschritt mithalten will, muss sich bewegen und sich engagieren. Deshalb bin ich überzeugt, dass sich die Betreuung der MS-Patienten immer mehr auf wenige Kompetenzzentren konzentrieren wird.»
Und was ist, wenn auch mit dem neusten therapeutischen Arsenal nichts mehr zu erreichen ist, wie das zum Beispiel bei einer langsam fortschreitenden MS-Erkrankung ohne Schübe oft der Fall ist? «Ich habe von den Bergführern gelernt, dass man immer etwas machen kann. Am schlimmsten ist Hoffnungslosigkeit. Wir sind es den Patienten schuldig, sie zu begleiten und Hoffnung zu vermitteln. Einen Menschen abschreiben? Nein, das gibt es bei uns nicht.»