In den letzten Jahren kam Bewegung in die Diagnostik und Therapie der Demenzen. Bei Alzheimer, der häufigsten Demenz-Erkrankung, kommt es zu spezifischen Proteinablagerungen im Gehirn und zu einer Verschlechterung des Gedächtnisses und einer ganzen Reihe von kognitiven Einschränkungen. Vor allem zwei Arten von Proteinablagerungen sind für die Erkrankung typisch: Beta-Amyloid und Tau. Man nimmt an, dass zuerst Amyloid-Ablagerungen entstehen, später dann das Tau-Protein abgelagert wird. Zusammen stören sie die Funktion der Nervenzellen, was schliesslich zum Abbau der Gehirnmasse führt. Die alltagsrelevante Störung des Gedächtnisses und weiterer Funktionen bezeichnet man als Demenz. Allerdings macht Alzheimer nicht alle, sondern nur zwischen 60 und 70 Prozent der Demenz-Fälle aus. Der Rest hat eine andere Ursache.
Bisherige Medikamente wirkten nur symptomatisch
Nach der ersten Beschreibung der später nach ihm benannten Erkrankung im Jahr 1907 durch Alois Alzheimer erschienen die ersten Medikamente erst in den Jahren 1996 bis 2003. Die insgesamt vier Medikamente wirken aber nur symptomatisch. Sie führen zu einer Verbesserung der Gehirnfunktion, vermögen aber nicht das Fortschreiten der typischen Alzheimer-Veränderungen zu beeinflussen. In den folgenden Jahren gab es viele Versuche der Pharmaunternehmen, neue Medikamente auf den Markt zu bringen. Sie sind ausnahmslos gescheitert. Viele der beteiligten Unternehmen zogen sich aus diesem Forschungsgebiet komplett zurück.
Vor drei Jahren gab es endlich einen Lichtblick. Es schien, als hätte man endlich ein Medikament, das die Ablagerung des veränderten Beta-Amyloid-Proteins hemmen und die bereits vorliegenden Schäden rückgängig machen könne. Dieser Effekt liess sich bei speziellen Untersuchungen beweisen. Aufgrund von Unstimmigkeiten bei den Zulassungsverfahren in den USA und Zweifeln, ob die Wirkung ausreichend ist, wurde das Medikament in Amerika nur provisorisch und in Europa gar nicht zugelassen. Die Meinungen waren gemacht: Das Medikament hat einen fragwürdigen Nutzen, ist exorbitant teuer und hat viele Nebenwirkungen.
Neue Therapie verlangsamt den Krankheitsverlauf
Der zweite Anlauf mit einem anderen Vertreter der gleichen Wirkstoffgruppe war dagegen erfolgreicher. Bei der Zulassungsstudie zeigte sich ein 27-prozentiger Unterschied in der Verschlechterung der kognitiven Funktionen nach 18 Monaten, verglichen mit der Placebo-Gruppe. Anders gesagt: Zwar kam es auch bei den behandelten Patienten zu einer Verschlechterung. Sie war aber nachweisbar geringer, als es ohne das Medikament der Fall gewesen wäre. Basierend auf den neusten Studiendaten geht man von einer Verlangsamung der Krankheit um ungefähr sieben Monate nach zwei Jahren aus. Bei einigen der Patienten liess sich sogar ein stabiler Verlauf ohne oder mit nur minimaler Verschlechterung nachweisen.
Bei diesem Wirkstoff lässt sich mit Spezialuntersuchungen eine erstaunliche Rückbildung der Amyloid-Ablagerungen feststellen. Zusätzlich sinkt auch die Menge des pathologischen Tau-Proteins, obwohl das Medikament keine direkte Wirkung auf diese Ablagerungen hat. Dadurch wurde klar, was man schon lange vermutet hat, aber bisher nicht eindeutig beweisen konnte: Es gibt auch bei den Menschen einen klaren Zusammenhang zwischen Amyloid und dem Tau-Protein.
Zulassung für die Schweiz frühestens Ende Jahr
Die guten Ergebnisse führten zu einer Zulassung in den USA, in Japan, Australien und China. Die Entscheidung der EU-Behörden folgt voraussichtlich im Herbst, in der Schweiz wird diese frühestens gegen Ende des Jahres 2024 erwartet.
Aus mehreren Gründen ist es meines Erachtens berechtigt, diese neuen Medikamente als Gamechanger zu bezeichnen. Es sind die ersten Wirkstoffe nach fast 120 Jahren Alzheimer-Forschung, die einen nachweisbaren Effekt auf die typischen Veränderungen im Gehirn zeigen. Die Wirkung auf die alltagsrelevanten Leistungen des Gehirns ist messbar und statistisch gesehen bedeutend. Wichtig scheint mir aber vor allem, dass die Aufmerksamkeit auf die Demenz-Medizin gerichtet wird.
Gute Chancen als Gamechanger
Die Bedeutung lässt sich am Beispiel der Schlaganfall-Behandlung demonstrieren. 1995 wurde die Wirkung eines neuen Medikaments zur Auflösung der Blutgerinnsel in Gehirngefässen publiziert. Das Medikament konnte so erstmalig den natürlichen Verlauf der akuten Durchblutungsstörung im Gehirn beeinflussen. Die Wirkung war bei den meisten Patienten nicht gross. Trotzdem führte die Einführung dieses einzigen Medikaments zu einer kompletten Umwandlung der Schlaganfallmedizin von einem eher passiven Zweig der Neurologie in eine akut-medizinische Disziplin mit vielen zusätzlichen Behandlungskonzepten, Therapien und spezialisierten Stroke Units. All diese Massnahmen zusammen ermöglichten grosse Fortschritte in der Prävention, Therapie und Prognose der Patienten mit einem Hirnschlag.
Effekt zeigt sich nur bei früher Diagnose
Die Hoffnung, dass sich die neuen Alzheimer-Medikamente als ähnliche Gamechanger erweisen und auch zu weiteren Erfolgen bei Patienten mit Alzheimer führen, ist meines Erachtens realistisch. Zulassungen von weiteren Medikamenten mit ähnlicher Wirkung oder anderen Wirkmechanismen könnten in absehbarer Zeit folgen. Gleichzeitig deutet sich auf diesem Gebiet bereits jetzt ein ähnlicher Zuwachs der Komplexität an, wie das in der Schlaganfallmedizin der letzten 20 Jahre auch der Fall war. War es früher weniger bedeutend, die genaue Ursache einer Demenz-Entwicklung zu finden, wird es bei diesen neuen Medikamenten, die ausschliesslich bei einer Alzheimer-Krankheit Anwendung finden, essentiell sein. Weil diese Medikamente nur in frühen Stadien der Krankheit, am besten bereits bei leichten kognitiven Defiziten, einen Effekt zeigen, ist auch eine möglichst frühe Diagnose von grosser Bedeutung. Die Verträglichkeit dieser Medikamente ist in den meisten Fällen sehr gut. Bei einem Teil der Patienten entwickeln sich aber typische Nebenwirkungen wie Wasseransammlungen und/oder Mikroblutungen im Gehirn, die häufig nur bei MRI-Kontrollen erkannt werden. Der Umgang mit diesen Veränderungen sowie mit vielen weiteren spezifischen Fragen verlangt nach Experten, die sich mit diesem Thema aktiv beschäftigen und bei steigender Menge der wissenschaftlichen Daten den Überblick behalten. Nicht zuletzt darf der Zeitbedarf ausführlicher Diskussionen mit Patienten und Familienangehörigen über die Möglichkeiten und Limitation der Therapie nicht unterschätzt werden. Das schweizerische Gesundheitssystem mit dem weltweit dichtesten Netz von Memory-Kliniken und anderen spezialisierten Einrichtungen ist auf diese Herausforderung vergleichsweise gut vorbereitet.
Viele Zweifel und Fragen sind noch nicht widerlegt beziehungsweise beantwortet. Ein endgültiger Beweis, dass der Nutzen der neuen Medikamente auch mittelfristig die Risiken und die Kosten überwiegt, muss noch erbracht werden. Ein vorsichtig optimistischer Blick in die Zukunft der Alzheimer-Therapie ist erstmals gerechtfertigt.
Kontakt
Altersneurologie am Swiss Clinical
Neuro Science Institute (SCNSI)
Dr. Filip Barinka
Bürglistrasse 29, 8002 Zürich
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Die Bildung neuer Plaques wird verlangsamt
Dr. med. Michael Lehmann, Facharzt für Neurologie, über die ersten Erfahrungen mit dem neuen Alzheimer-Medikament.
Die Schlagzeilen in den Medien sind euphorisch: Bahnbrechendes Alzheimer-Medikament, Durchbruch! Wie ist Ihre Einschätzung?
Nicht euphorisch, aber optimistisch. Zum ersten Mal gibt es ein Präparat – in den USA bereits zugelassen –, das den Verlauf der Alzheimer-Erkrankung verlangsamen könnte und nicht nur wie bisherige Medikamente die Symptome reduziert. Alzheimer ist eine komplexe Erkrankung. Man muss daher abwarten, wie sich die neuen Medikamente in der Realität bewähren. Auch die Ergebnisse weiterer klinischer Studien und Langzeitdaten sind relevant, um Sicherheit und Wirksamkeit umfassend zu bewerten. Auch organisatorisch und logistisch sind noch Fragen zu klären wie ausreichende Infusionsplätze, engmaschige Kontrollen von Patienten und regelmässige Bildgebung mittels MRI vom Kopf/Gehirn.
Was ist der Wirkmechanismus des Antikörpers, der voraussichtlich noch in diesem Jahr auch in der Schweiz zugelassen wird?
Der monoklonale Antikörper wurde entwickelt, um die Ansammlung von Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn zu reduzieren. Der Antikörper bindet an diese Beta-Amyloid-Proteine, bevor sich diese zu festen Plaques zusammenlagern können. Auf diese Weise kann das krankmachende Protein leichter aus dem Gehirn entfernt werden, und die Bildung neuer Plaques wird verlangsamt. In den Studien konnte gezeigt werden, dass auf diese Weise die kognitive Verschlechterung von Alzheimer-Erkrankten im frühen Krankheitsstadium reduziert beziehungsweise verlangsamt werden kann.
Kann man schon sagen, wie lange der Effekt anhält?
In der Phase-3-Studie, die zur Zulassung in den USA führte, konnte eine Verlangsamung der Entwicklung kognitiver Defizite und der funktionalen Verschlechterung bei Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und leichter Alzheimer-Krankheit um 27 Prozent ermittelt werden, und dies über einen Zeitraum von 18 Monaten. Spannend wird auch die Auswertung sein, wie es nach diesen 18 Monaten weitergeht, ob der Effekt anhält oder, und das ist die grosse Hoffnung, mit zunehmender Zeit sogar zunimmt. Es ist somit auch noch nicht geklärt, wie lange die Infusionen, die alle 14 Tage erfolgen, fortgesetzt werden müssen oder ob zum Beispiel eine weitergehende Behandlung über Jahre hinweg die Progression der Krankheit verlangsamen kann. Weitere Studienergebnisse und Langzeitdaten müssen noch abgewartet werden.
Sind die Nebenwirkungen vernachlässigbar?
Nein, die möglichen Nebenwirkungen sind leider nicht zu vernachlässigen. Aber es ist nun einmal grundsätzlich so, dass jedes Medikament neben der erwünschten Wirkung auch potenzielle Nebenwirkungen aufweist. Zu nennen sind zum einen die sogenannten Amyloid-related Imaging Abnormalities, abgekürzt ARIA. Hierbei handelt es sich um Phänomene, die mittels Schädel-MRI zur Darstellung gebracht werden. Zum einen handelt es sich um Schwellungen, zum anderen um Blutungen im Gehirn. Die positive Nachricht ist, dass die meisten dieser ARIA nicht symptomatisch sind, sodass im Einzelfall abgewogen werden muss, ob die Therapie fortgesetzt werden kann oder ob eine Pause oder ein Abbruch nötig sind. Zudem muss man infusionsbedingte Reaktionen wie Fieber, Schüttelfrost oder Hautausschlag beachten. Zu den weiteren berichteten Nebenwirkungen zählen Kopfschmerzen, Sturzneigung und Diarrhö. Da die Patienten regelmässig und engmaschig kontrolliert werden, sind diese Nebenwirkungen in der Regel schnell zu erkennen.
Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Antikörper?
Ersten Patienten wurde das Medikament off-label bereits in der Infusionsambulanz des Neurozentrums Bellevue gespritzt. So haben wir erste Erfahrungen sammeln können und werden bereits einen Erfahrungsschatz gewinnen, bevor das Medikament dann hoffentlich bald auch in der Schweiz zugelassen wird und damit einem breiteren Patientenkollektiv zur Verfügung steht.