Der Körper, der seine Kraft verlor

Morbus Pompe

Brigitte Nyfeler, 50, aus Port BE ist keine normale Covid-19-Patientin. Sie leidet auch an Morbus Pompe. Obwohl sie schon mit dem defekten Gen auf die Welt gekommen war, brach die seltene Erbkrankheit erst mit 28 aus. Jahrelange Irrwege, überforderte Ärzte, falsche Diagnosen. Obwohl sie unerträgliche Schmerzen im Rücken hatte und obwohl sie kaum mehr aufrecht stehen konnte, hatte ihr der Hausarzt bescheinigt, der Rücken sei gesund. Es brauchte einen aufmerksamen Physiotherapeuten und einen Bluttest, dass die Seeländerin ihrer Stoffwechselkrankheit auf die Schliche kam. Ihre Lendenmuskulatur hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt quasi aufgelöst.

Im Energiestoffwechsel von Brigitte Nyfelers Körper fehlt ein wichtiges Enzym. Jenes, das die Abfallstoffe aus den Muskeln hinausbefördert. Ohne dieses erstickt der Muskel irgendwann und stirbt. Beine, Arme, Rücken, Lunge sind betroffen. Nur das Herz nicht. Doch was nützt ein schlagendes Herz, wenn die Lunge keinen Sauerstoff mehr in den Körper bringt? Das Gute: Seit zwölf Jahren bekommt Brigitte Nyfeler alle zwei Wochen intravenös ein Medikament verabreicht, das die Krankheit bremst. Ohne Medikament wäre Brigitte Nyfeler längst ein Pflegefall. Ans Bett gebunden, künstlich beatmet. Vielleicht nicht mehr am Leben.

Enges Schutzkonzept

Und nun kam noch das Coronavirus hinzu. Ausgerechnet die Lunge würde es angreifen. Die Lunge, die bei der Patientin schon jetzt am Limit läuft. «Ende 2019 habe ich im Fernsehen zum ersten Mal von Corona gehört. Bei mir läuteten die Alarmglocken. Und schon bald klingelte das Telefon. Mein Neurologe empfahl mir dringend, die eigenen vier Wände nicht mehr zu verlassen. Keine Physiotherapie, keine Aromatherapie, kein Arztbesuch mehr. Ja nicht einmal mehr selber einkaufen sollte ich. Die ganze Familie wurde in ein enges Schutzkonzept einbezogen. Meine Söhne durften sich kaum noch verabreden. Mein Mann musste immer mit Maske zur Arbeit. Einkäufe liessen wir uns nach Hause liefern. Nur alle zwei Wochen durfte ich zur Pompe-Behandlung einen halben Tag ins Spital. Völlig abgeschirmt, über einen kleinen Seiteneingang.»

Das Leben stand Kopf. Vorsicht und Angst lähmten Familie Nyfeler. «Sehnsüchtig wartete ich auf die Impfung», blickt Brigitte Nyfeler zurück. «Doch selbst Hochrisiko­patienten wurden zurückgestellt. Erst kamen die älteren Menschen an die Reihe. Als ich endlich aufgeboten wurde, wusste niemand, ob sich die Impfung mit meinen Medikamenten vertragen würde. Doch es ging. Ein bisschen Durchfall, etwas Schüttelfrost. Mehr nicht.»

Atmen, sprechen und schlucken fielen schwer

Dann passierte es trotzdem. Den Booster, also die dritte Impfung, bekam Brigitte ­Nyfeler noch, doch für den vierten Piks reichte es gerade nicht mehr. Das Virus war ihm zuvorgekommen. Die Omikron-Variante sei nicht so schlimm, hiess es. «Am ersten Tag dachte ich auch: Das geht ja noch. Doch schon am zweiten wurden meine Muskeln schwächer und auch die Kraft des Zwerchfells nahm schnell ab. Atmen wurde schwieriger, selbst sprechen und schlucken fielen mir schwer. Von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut begann es zu kribbeln. Wie ein Lift, der nach oben fährt. Wie eine Wolke, die mich umhüllt. Und als der Lift wieder nach unten fuhr, schaltete der Körper jedes Mal einen Gang runter. Im Halbstundentakt kam dieses komische Gefühl. Ich wurde schwächer und schwächer. Als ich nicht mehr stehen konnte, blieb nur noch der Weg ins Spital.»

Steine statt Leinwände bemalen

Brigitte Nyfeler fühlte sich hilflos. Der Zugang zu ihrem Neurologen war versperrt. Überbelegung wegen Covid-19. Im Ersatzspital hatte man von Morbus Pompe wenig gehört. Die Gedanken kreisten. «Würden sie mich korrekt behandeln können? Wissen sie, was im Notfall zu tun ist? So ein He­runterfahren des Körpers hatte ich nämlich noch nie erlebt; bei keiner Grippe, bei keiner Stirnhöhlenentzündung und bei keiner Antibiotika-Therapie.» Eine Woche blieb Brigitte Nyfeler im Spital, stabilisierte sich auf tiefem Niveau. «Zu Hause war ich immer noch völlig kraftlos. Ich lag und schlief, hatte grosse Hilfe von allen Seiten. An mein geliebtes Malen war trotzdem noch nicht zu denken. Für Pinselstriche auf der Leinwand waren meine Kraftreserven einfach zu klein. Eine Kollegin brachte mich auf die Idee, statt der grossen Leinwände kleine Steine zu bemalen. Genau das tue ich seither. Klein und fein. Filigran – mit Fingerspitzengefühl. Und bei dieser Technik merkte ich, wie mit jedem bemalten Stein etwas von der verlorenen Kraft zu mir zurückkam.»

Das ist Morbus Pompe

Morbus Pompe gehört zu den Gruppen der lysosomalen Speicherkrankheiten und der stoffwechselbedingten Muskelerkrankungen. Ein vererbter Gendefekt ist dafür verantwortlich, dass ein bestimmtes Stoffwechselprodukt in den Zellen, besonders in den Muskelzellen, nicht abgebaut werden kann. Darunter leiden vor allem die Muskeln des Schulter- und Beckengürtels sowie des Atemtraktes. Bei der klassisch-infantilen Form ist auch das Herz betroffen. Drei Viertel aller klassisch-infantilen Morbus-Pompe-Patienten sterben darum bereits im ersten Lebensjahr. Bei weiteren Formen treten die Anzeichen und Symptome irgendwann zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter auf. Sie können in ihrer Ausprägung sehr unterschiedlich sein. Zur ursächlichen Behandlung gibt es eine Enzymersatz­therapie. Sie kann das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen und die Muskelfunktion verbessern.