Der mit dem Rollator tanzt

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Bewegung kennt kein Alter und keine Grenzen mehr. Seniorinnen und Senioren entdecken den Rollator-Tanz.

Eins-zwei-drei. Zwei-zwei-drei. Drei-zwei-drei. Pendelschritt. Altersheime und Tanzschulen werden von einer Welle überrollt: ganze Klassen von Rollator-Fahrerinnen und Rollator-Fahrern machen sich auf den Weg, um trotz Gehschwäche, trotz physischer Einschränkungen und trotz hohen Alters wieder bewegte Freude zu erleben. Was in Holland begann, ist auf Deutschland übergeschwappt und könnte bald auch in der Schweiz auf Interesse stossen.

Rollatoren im Wandel. Gehhilfen nicht mehr als äussere Zeichen von körperlicher Schwäche und Verlust. Nein. Gehhilfen als Sportgeräte, die einem etwas zurückgeben von dem, was man früher so gut und gerne gemacht hat. Gehhilfen als Zeichen der puren Lust, weiterhin aktiv und selbstbewusst am Leben teilnehmen zu wollen – und zu können.

Vorbei die Zeit, in der ältere Menschen als Last betrachtet wurden und von der Gesellschaft bestenfalls geduldet waren. Hereinspaziert in eine neue Epoche, die sich durch die Wiedereingliederung älterer Menschen in die Familie und in eine aktive Gemeinschaft auszeichnet. Hereinspaziert in die Rollator-Tanzstunde.

Ilse Häneke, 86, ehemalige Klinikärztin, hat sich heute Dienstagvormittag mit fünf anderen Altersgenossen im Tanzsportzen­trum des 1. Tanzclubs Ludwigsburg (D) eingefunden. Nicht Rock’n’Roll, nicht Discofox und nicht Jive werden unterrichtet. In Saal 1 sind die Rollatoren los. Rollator-Tanz heisst die Lektion, die von Tanzlehrerin Sylvia Scheerer seit fünf Jahren hier angeboten wird. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus der ganzen Region, parkieren ihr Auto vor dem Haupteingang, holen ihr Gefährt aus dem Kofferraum und stützen sich zwei Handgriffe später darauf ab. Gemächlich, sanft und trotzdem voller Begeisterung bewegen sich die älteren Herrschaften über das Parkett. Zu motivierender Musik und unter fachkundiger Leitung wagen sie alte und neue Schritte. Die Seele erwacht.

Für diese Seniorinnen bedeutet Altsein nicht das Ende aller Träume. «Nein, überhaupt nicht. Es ist der Beginn neuer Träume in einem anderen Leben als vorher», sagt Ilse Häneke. Und trotzdem manchmal mit Tränen verbunden? «Natürlich. Ich hatte Kinderlähmung und als mir im Alter eröffnet wurde, dass neue Lähmungen auftreten werden, flossen Tränen. Aber es gibt auch im Alter Zuversicht und Freude, dann, wenn ich ein Theater besuche oder ein klassisches Konzert geniesse. Dafür nutze ich jetzt meine Zeit.» Lore Reuss, 87, ist von Beginn an beim Rollator-Tanz dabei. «Mein Mann und ich waren ein Leben lang begeisterte Tänzer und viele Jahre zusammen im Tanzclub. Nach seinem Tod vor neun Jahren ging ich erst in den Senioren-Tanz und freue mich nun jede Woche auf den Rollator als neuen Tanzpartner. Mit ihm lebt das Flämmchen in mir wieder auf.» Sie erzählt auch, dass sie im November gestürzt sei und deshalb vier Monate pausieren musste. Ein richtiges Drama, denn: «Durch die Zwangspause wurde mein Bein dick. Eins zieht eben das andere nach sich. Ich bin so glücklich, dass ich jetzt wieder mitmachen kann. Bewegung ist das Ein und Alles für mich.»

Auch Gerda Stellbrink, 88, liebt das, was der Rollator ihr an Möglichkeiten eröffnet. «In den ersten Jahren wurde man auf der Strasse noch schräg angeguckt, wenn man mit dem Gerät unterwegs war. So traute ich mich nur nach draussen, wenn es dunkel war. Heute wissen die Menschen, wie nützlich diese Rollatoren sind, und welches Mass an Freiheit sie einem schenken. Dank dem Rollator-Tanz bleibt man auch im Kopf fit. Schritte und Formationen sind eine Herausforderung. Nach der Lektion bin ich richtig müde und geniesse die Ruhepause am Nachmittag. Wissen Sie: Im Alter verliert man jedes Jahr ein bisschen an Kraft. Mit dem Willen kann man aber einiges davon wettmachen.» Welche Rolle spielen Gemeinschaft und Geselligkeit? Gerda Stellbrink: «Für mich keine so grosse. Ich bin im Sternzeichen Zwilling geboren und kann gut mit mir alleine sein. Mein Mann ist vor 20 Jahren gestorben. Alleinsein ist lernbar.» Lore Reuss: «Für mich ist Gemeinschaft wichtig. Ich suche auch heute noch den Kontakt zu den Menschen. Wir feiern in der Familie deshalb jeden Geburtstag. Jung und Alt gemeinsam. Und dank meinem Freund, dem Rollator, bin ich immer dabei.»

Hans-Jürgen Schwarzer ist heute der einzige Mann in der Gruppe. Er lebt in einem Haus mit betreutem Wohnen und wird vom Fahrdienst in die Stunde gebracht. «Sie stellen mir eigens den Chauffeur zur Verfügung. Weil mir das Tanzen richtig guttut.» Ohne Rollator könnte er es nicht mehr.

Ortswechsel. Am Nachmittag leitet Sylvia Scheerer eine weitere Lektion, dieses Mal in einer Seniorenresidenz ein paar Kilometer entfernt in Bietigheim-Bissingen. Aus allen Ecken des Hauses strömen die Bewohnerinnen herbei. Hier und heute nur Damen. Die Lifttür öffnet sich und Herta Bortlich, 92, strahlt in die Runde. Sie war baden-württembergische Landesmeisterin im Fechten, damals. Heute findet sie ihr Gleichgewicht mit dem Rollator. Ist für sie Altsein Isolation? «Ja, weil ich ganz schlecht höre. Wenn man nicht mehr alles mitbekommt, wird man schwerfälliger.» Was bedeutet der Rollator für sie? «Laufen. Er bedeutet laufen. Ohne Rollator geht nichts mehr.» Auch für Emilie Vohry, 85. Sie hat nach 61 gemeinsamen Jahren erst kürzlich ihren Mann verloren. Ist Alter aus dieser Sicht nur noch Niedergang? «Bis zu einem gewissen Grad ja. Mit dem Tod des Partners muss man erst einmal klarkommen. Was war, das ist gut. Zuversicht und Freude erlebe ich heute durch meine Enkelkinder, weil sie sich um mich kümmern. Mit dem Rollator-Tanzen habe ich hier im betreuten Wohnen begonnen. Ein freiwilliges Angebot, das mir gefällt.»

«Beim Rollator-Tanz wird die Welt entschleunigt», sagt Sylvia Scheerer. Seit 2009 ist sie treibende Kraft für die Verbreitung dieser Bewegungsart in Deutschland, zusammen mit dem Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband ADTV und der Gesundheitskasse AOK. «Die Rollator-Tänzerinnen und -Tänzer sind so motiviert. Sie kommen auch, wenn das Knie schmerzt. Die Stunde ist für sie häufig das Highlight der Woche. Auch aus medizinischer Sicht macht es Sinn, mitzumachen. Tanzen fördert die Kondition, die Koordination, ist Sturzprophylaxe, die Synapsen im Gehirn werden angeregt und vor allem ist Rollator-Tanz etwas für die Seele. Musik holt alle hier aus ihrem Alltag heraus. Es ist grossartig und toll, was man im Alter miteinander und füreinander machen kann.»