Der Tod meines Bruders

Schicksal Richener

Vor drei Jahren starb mein Bruder. Er ist nicht mehr da. Dennoch habe ich ihn immer noch in meinem Herzen mit all den Erinnerungen, den schönen und auch den schmerzhaften. Doch wie mein Bruder sterben musste, das hätte so nicht sein müssen. Er hätte ein sanftes Sterben verdient. Er war ein wunderbarer und liebenswerter Mann. Seine unendliche Bescheidenheit und Zufriedenheit ehrten ihn, obwohl er in jungen Jahren schon an Depressionen litt. Später wurde auch eine Schizophrenie diagnostiziert. Trotz seiner Krankheit war er ein leidenschaftlicher Schlagzeugspieler –, und er war sehr kreativ.

Er lebte viele Jahre in der Psychiatrischen Klinik, später als junger Mann in einer kleinen Wohnung, nicht weit der Klinik, wo er bis zu seinem Tod Tagespatient war. Ich hatte grosse Mühe, seine Krankheit und seine Lebensweise zu akzeptieren. Ich hatte sehr viel Mitgefühl, oft war ich sehr traurig, weil er am Leben nicht richtig teilnehmen konnte. Er lebte sehr ungesund, rauchte viel und ernährte sich fast nur von Süssigkeiten. Ich machte mir deswegen immer wieder grosse Sorgen und sprach mit den Betreuern und Ärzten. Doch die meinten, man habe ihn so zu akzeptieren.

Freude an den kleinen Dingen

Das fiel mir und meinen Geschwistern nicht leicht. Vor allem liess mein Bruder keine Veränderung zu, denn jede kleinste Veränderung löste bei ihm Ängste aus. Manchmal dachte ich, es wäre für ihn besser, wenn er sterben könnte. Dann müsste er nicht mehr leiden – und er wäre wieder bei den Eltern. Ich konnte mit niemandem darüber sprechen. Wer würde solche Gedanken verstehen? Also schämte ich mich meiner Gefühle. Ich fing an umzudenken und versuchte so gut es ging, mich in seine Situation hineinzufühlen. Mehr und mehr nahm ich seine Freude wahr, die er an den kleinen Dingen hatte, wie zum Beispiel am Fussball. Darüber konnte er reden, darüber wusste er Bescheid, und es machte ihn stolz. Nun wusste ich, dass ich mich irrte. Für ihn war das Leben, das er führte, sein Leben – und das war für ihn gut so. Er fühlte sich auf dem Velo am wohlsten, obwohl der Radius, in dem er sich bewegte, nicht viel mehr als 100 Meter betrug. Sein Leben fand nur zwischen seiner kleinen Wohnung und der Klinik statt – das war sein Zuhause.

Ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Er war mein jüngerer Bruder. Als wir noch Kinder waren, setzte ich mich schon für ihn ein – wir lebten zusammen mehrere Monate in einem Kinderheim. Es war eine sehr traurige Zeit, und ich musste für mein Brüderchen stark sein – er war Bettnässer – und ihn vor den zu strengen Pflegeschwestern schützen. Diese Erfahrung hat uns sehr verbunden.

Fragen machten ihm Angst

Vor drei Jahren starb mein Bruder. Er wurde nur 63 Jahre alt. Seine Krankheit führte dazu, dass man mit ihm nie über seine Bedürfnisse und Wünsche sprechen konnte. Fragen jeglicher Art machten ihm Angst. So weiss ich bis heute noch immer nicht, ob all die vielen Medikamente wirklich nötig waren. Sein Blick war oft so leer.

Viel zu spät merkte man, dass mein Bruder schwer krank wurde. Oft fiel er vom Velo. Wir wurden nie darüber informiert. Bis er mit der Ambulanz auf die Intensivstation gebracht wurde und man dort feststellte, dass er Krebs im Halsbereich hatte. Und dann ging es so richtig los. Chemotherapie ging nicht. Die Bestrahlungen verbrannten seine Haut. Mein Bruder machte einen Herzinfarkt nach dem anderen. Mit Reanimation holte man ihn wieder zurück. Sein Hirn hatte zehn Minuten keinen Sauerstoff. Warum taten die Ärzte das? Es wäre doch ein schöner, sanfter Tod gewesen. Man wusste doch genau, dass er nie mehr ein selbständiges Leben würde führen können. Ich war wütend und traurig zugleich.

Armer geliebter Bruder

Was danach an lebenserhaltenden Massnahmen gemacht wurde, mag ich nicht erzählen, weil es mir das Herz zerreisst. Sein Sterben dauerte drei Monate. Ich ging jeden Tag bei ihm vorbei. Sprechen konnte er nicht mehr, weil man einen Luftröhrenschnitt gemacht hatte, damit der Schleim abgesaugt werden konnte. Ich werde die röchelnden Geräusche nie vergessen – armer geliebter Bruder. Ich schaute aus dem Fenster. Die Wolken zogen grau dahin, als wäre nichts geschehen, und die Menschen auf der Strasse gingen ihrer Arbeit nach, einfach so.

Ich wollte stark sein für ihn

Ich weiss nicht, was mein Bruder noch fühlte und spürte. Tag für Tag stand ich an seinem Bett, schaute in seine Augen, die mir vielleicht noch etwas sagen wollten. Ich musste mich unendlich zusammenreissen, damit ich nicht weinte. Ich wollte stark sein für ihn. Was konnte ich noch für ihn tun, ausser nur dazustehen und seinen Mund zu befeuchten und ihm seine Wange zu streicheln? Ich spürte, wie gut ihm in diesen Stunden die Berührungen taten, wenn ich seine kühlen Hände in meine warmen nahm. Seine Atmung wurde dadurch ruhiger. Ich redete mit ihm und versprach ihm, dass ich mich um seine psychisch kranke Freundin kümmern würde.

Er bekam dauernd Medikamente, um ihn am Leben zu halten. Wenn er umgelagert wurde, damit er nicht wundlag, stöhnte er. Das Spitalpersonal hatte keine Zeit, behutsam mit ihm umzugehen, bis ich intervenierte. Für mich wurde die Situation unerträglich. Nachts hatte ich Albträume. Aber meine Geschwister waren anderer Meinung, weil sie hofften, er werde wieder gesund. Jeder wollte etwas anders. Ich kämpfte für die palliative Sterbebegleitung. Doch es hiess, du kannst ihn doch nicht einfach umbringen!

Endlich wurde er erlöst

Endlich war es soweit. Wir waren alle eben noch bei ihm gewesen. Am selben Abend bekam ich den Anruf, er sei friedlich eingeschlafen. Am nächsten Morgen ging ich noch das allerletzte Mal alleine zu meinem Bruder. Wie friedlich er dalag – ein Schauer ging durch meinen Körper, und ich konnte meinen Tränen freien Lauf lassen. Endlich wurde er erlöst.

Ein letztes Mal berührte ich zaghaft seine übereinandergelegten, kalten Hände. Die Haare hatte man ihm zurückgekämmt, sein Profil kam so zur Geltung, er sah aus wie ein stolzer Indianer. Dieses Bild nahm ich mit nach Hause und war erleichtert, dass es nun zu Ende war.

Zeit, um alles zu verarbeiten

Immer, wenn ein geliebter Mensch stirbt, macht uns Menschen das einsam. Unsicherheit kommt auf, und viele Fragen schreien nach Antworten. Ich war lange wie gelähmt und musste lernen, das auszuhalten. Es braucht viel Zeit, um alles zu verarbeiten. Das ist Trauerarbeit.

Was ich erlebt habe zeigt, wie wichtig es ist, sich rechtzeitig mit den Fragen rund um das Lebensende auseinanderzusetzen. Ich möchte alle dafür sensibilisieren. Unwissenheit macht Angst. Es braucht professionelle Hilfe im Umgang mit diesem Thema. Was will ich, wenn ich einmal sterben muss? Und es braucht dringend eine Patientenverfügung, damit auch die Angehörigen wissen, was der Sterbende für sich braucht und was er will oder eben auch nicht will. Das Erlebnis mit meinem Bruder hat mich umgehend dazu bewogen, für mich eine Patientenverfügung zu machen. Dazu gibt es gute Hilfestellungen wie zum Beispiel bei Pro Senectute.