Die Grenzen werden gesucht

Laisser-faire oder verbieten? Dr. med. Toni Berthel, Präsident der Eidge­nössischen Kommission für Drogen­fragen, über Web, Drugs und Alkohol.

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Im Jugendalter finden die vielen Schritte statt, die ein Mensch durchmacht, damit er sich vom Kind zum Erwachsenen entwickeln kann. In dieser Phase der Individuation und Sozialisation verabschiedet sich der junge Mensch von Halt gebenden elterlichen Vorgaben und tritt hinaus in eine häufig verunsichernde, aber faszinierende Welt. Innere Bilder, welche Sicherheit vermittelten, werden aufgelockert, die bisherige Identität wird diffuser und unklarer. Die Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz wird bewusst. Grenzen werden gesucht, getestet und zu überwinden versucht. In dieser Auseinandersetzung mit der Mitwelt, oft gemeinsam mit Gleichaltrigen, wird die neue, erwachsene Identität konfiguriert.

Rauscherfahrung und Grenzerlebnisse durch Alkohol, Drogen und Medien

Die Entwicklungsprozesse und Lernerfahrungen finden ausserhalb familiärer Strukturen statt, zum grossen Teil im öffentlichen Raum. Hier wird der Jugendliche konfrontiert mit vielen gesellschaftlichen Aspekten, die ihm bisher fremd waren. Dazu gehört auch der Kontakt mit psychoaktiven Substanzen wie Alkohol, Drogen oder mit Medien wie dem Handy oder dem Internet. Sie ermöglichen den Jugendlichen erste Rausch­erfahrungen und Grenzerlebnisse, aus denen sie etwas lernen und an denen sie wachsen können. Diese gesellschaftlichen Phänomene spielen eine wichtige Rolle für die Aneignung von Kompetenzen im Umgang mit der Welt. Anderseits ist aber unbestritten: Der exzessive Konsum von berauschenden Substanzen und Medien kann der Gesundheit und der Entwicklung schaden. Der wiederkehrende Kontrollverlust kann zu Suchterkrankungen, die grenzenlose Nutzung der Medien zu Abhängigkeit führen.

Drogen – auch Alkohol – sind Substanzen, die das zentrale Nervensystem, das heisst Wahrnehmung, Gefühle, Emotionen, Motorik beeinflussen und das Bewusstsein verändern. Grob können wir psychoaktive Substanzen in drei Kategorien einteilen: Beruhigende oder dämpfende Substanzen wie Alkohol, Beruhigungsmittel, Opiate und Cannabis. Aufputschende Substanzen wie Kokain, Ecstasy sowie Amphetamine. Halluzinationen hervorrufende Substanzen wie LSD oder halluzinogene Pilze. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen bildet eine Konstante aller menschlichen Kulturen. Diese Substanzen erzeugen viele Wirkungen, die als positiv erlebt und darum immer wieder gesucht werden. Rauscherfahrungen sind wichtige Erlebens- und Daseinsmöglichkeiten, welche die Entwicklung unterstützen, Lebensphasenübergänge begleiten, transzendentale Erlebnisse fördern oder Entspannung und Lebenslust vermitteln können.

Medien hingegen – stark verbunden mit dem Internet – haben als gesellschaftliche Phänomene eine andere Bedeutung. Sie zeichnen sich durch spezielle Bedingungen aus. Zentrale Punkte sind etwa die unbegrenzte Verfügbarkeit von Wissen und Konsummöglichkeiten, alternative Arten sozialer Vernetzung und das Spannungsfeld zwischen Anonymität und Datenschutz. Wie die psychoaktiven Substanzen sind auch die Medien als gesellschaftliche Phänomene zu sehen, mit denen Jugendliche konfrontiert sind und lernen müssen, damit umzugehen.

Cannabis, Alkohol und Medien stehen im Vordergrund

Beim Übergang vom Kind zum Jugendlichen stehen heute vor allem der Konsum von Cannabis und Alkohol sowie die Nutzung von Medien im Vordergrund. Neuere Untersuchungen zeigen, dass von den 15- bis 19-Jährigen rund 30 Prozent Cannabis mindestens einmal im Leben und 20 Prozent mindestens einmal im letzten Jahr konsumiert haben. Doch nur bei 2,5 Prozent sehen wir einen starken bis abhängigen Konsum. Beim Alkohol geben 13 Prozent von den 15- bis 19-Jährigen an, mindestens einmal pro Monat bis zum Rausch zu trinken, 6 Prozent mindestens einmal pro Woche und 8 Prozent zwei- und mehrmals pro Woche.

Medien, Internet und Onlinespiele nutzen über 95 Prozent der 14- bis 18-Jährigen regelmässig. Wie viele dieser Nutzer ein problematisches Verhalten zeigen, ist schwierig zu erheben, wobei Spiele, die eine rasche Belohnung erzeugen, ein höheres Potenzial für die Entwicklung einer Abhängigkeit haben.

Bei all diesen Substanzen und Verhaltensweisen sehen wir die gleichen Entwicklungsmuster. Der regelmässige, teilweise übermässige Konsum nimmt nach abgeschlossener Adoleszenz rasch und stark ab. Nur eine Minderheit setzt den exzessiven Alkohol- und Cannabiskonsum oder die Mediennutzung in späteren Altersstufen fort. Langdauernde Suchtentwicklungen sehen wir vor allem bei Menschen, die in ihrer Kindheit starken Belastungen und Traumata ausgesetzt waren, oder die sich durch den Konsum bereits massiv geschädigt haben.

Das bedeutet: Exzessiver Substanzkonsum oder intensive Mediennutzung sind im Jugendalter in der Regel ein Durchgangsphänomen. Im Wissen, dass psychoaktive Sub­stanzen trotz Verbot konsumiert oder Medien trotz der elterlichen Vorgaben übermässig genutzt werden, heisst das für Eltern, Erzieher und Behandler aber auch: Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen so erziehen, dass sie selber fähig werden, Risiken zu erkennen, adäquate Entscheidungen zu treffen und einen kompetenten Umgang mit den Angeboten, Konsumgütern und Lebensanforderungen erlangen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Jugendlichen sicher und ohne Schaden durch diese Lebensphase kommen. Dabei müssen wir unterscheiden, wann der Konsum positiv zur Entwicklung beiträgt und wann ein Konsum schädlich ist, Probleme auftreten oder eine Sucht entsteht. Wie aber können wir dies erkennen?

Problem, wenn andere Interessen in den Hintergrund treten

Der Konsum wird dann problematisch, wenn andere Interessen in den Hintergrund treten, die Kontakte zu Gleichaltrigen nicht mehr gepflegt werden, die Leistungen in der Schule oder der Lehre schlechter werden, Freizeitaktivitäten wie Fussball, Musik machen und hören, Pflege von Freundschaften reduziert werden, Aktivitäten in der Familie gänzlich abgelehnt werden, die Körperpflege vernachlässigt wird, weniger geschlafen wird, um zu konsumieren oder die Medien zu nutzen.

Von einer Abhängigkeit oder Sucht sprechen wir, wenn mehr als drei der folgenden Symptome gleichzeitig auftreten:

  • Starker innerer Zwang zum Konsum der Substanz oder der Nutzung von Medien mit verminderter Kontrollfähigkeit.
  • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums.
  • Körperliche und psychische Entzugssym­ptome, wenn der Konsum bzw. die Me­diennutzung gestoppt oder reduziert wird.
  • Toleranzbildung: die Substanzdosis oder die Zeit für die Nutzung der Medien müssen erhöht werden, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
  • Andere Interessen werden vernachlässigt, sozialer Rückzug, erhöhter Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanzen oder Mediennutzung.
  • Trotz Wissen um bereits vorliegende Gesundheitsschäden wird weiter konsumiert oder werden Medien weiter genutzt.

Was können wir tun, wenn wir uns Sorgen machen? Jugendliche, die Probleme mit dem Konsum von psychoaktiven Substanzen haben oder die Medien übermässig nutzen, kommen selten von sich aus in eine Beratungsstelle oder Sprechstunde. Häufig werden sie von Eltern oder Lehrern geschickt. Wir müssen diesen Umstand in unseren Abklärungen, der Beurteilung und in den Interventionen berücksichtigen. Es ist sinnvoll, strukturiert vorzugehen. Wollen wir mit den Jugendlichen erfolgreich arbeiten, müssen wir mit ihnen gemeinsam Ziele formulieren. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen durch unsere Interventionen positive alternative Erfahrungen machen und eine Erweiterung ihres Handlungsspielraums erleben. Hier erhalten gemeinsame Aktivitäten und Erlebnisse in der Familie, mit Freunden und Kollegen oder in der Schule oder Lehre eine grosse Bedeutung.

Jugendliche sind Hilfsangeboten und Erwachsenen gegenüber skeptisch

Besonders jüngere Konsumenten von Alkohol oder Cannabis oder Nutzer von Me­dien problematisieren ihr eigenes Konsumverhalten wenig und sind dazu oft noch nicht in der Lage. Jugendliche zeigen anfänglich generell meist wenig eigene, innerliche Behandlungs- bzw. Veränderungsbereitschaft und sind aufgrund ihrer Entwicklungsphase klassischen Hilfsangeboten und Erwachsenen gegenüber skeptisch eingestellt. Der Umgang mit wenig bis unmotivierten Jugendlichen stellt eine Herausforderung dar. In diesen Fällen wird zuerst der Kontakt hergestellt und eine Vertrauensbeziehung aufgebaut. Anschliessend wird die Motivation für eine Veränderung abgeschätzt. Weiter wird mit Methoden gearbeitet, welche die persönlichen Ressourcen aktivieren und die Motivation fördern. Falls sich das problematische Verhalten so nicht beeinflussen lässt, kann ein Time-out Distanz zur schwierigen Alltagswirklichkeit bringen. Jugendliche suchen in Erwachsenen sowohl Auseinandersetzungs- wie Identifikationsfiguren. Besonders sorgfältig muss deshalb mit dem lebensphasenspezifischen Widerstand gegen elterliche wie erwachsene Vorgaben und Grenzsetzungen umgegangen werden. Zwischen einem resignierten Laisse-faire und einer rigiden Machtdemonstration muss das richtige Mass gefunden werden.

Eltern können sich ohne Jugendliche an Fachleute wenden

Häufig sind Eltern verunsichert. Sie wissen nicht, ob das Verhalten ihrer Kinder noch zum normalen Adoleszentverhalten gehört oder schon problematisch ist. Es gelingt ihnen oft nicht, ihre Kinder zu einer Beratung oder Behandlung zu bewegen. In diesen Fällen können sich Eltern auch ohne ihre Kinder an Fachleute wenden. Hier geht es zuerst um Information über die adoleszentäre Entwicklung, Substanzen oder Medien sowie um die Einschätzung des allfälligen Konsums und des individuellen Verhaltens. Vielfach sind Eltern nach einem solchen Gespräch beruhigt. Halten die Probleme an, kann eine länger dauernde Elternberatung oder Familientherapie helfen.

Fazit: Der Konsum von psychoaktiven Substanzen oder die Nutzung der Medien werden dann problematisch, wenn der altersspezifische Entwicklungsprozess blockiert wird. Dies ist der Fall, wenn problematisches Verhalten unerkannt bleibt oder ignoriert wird. Beeinträchtigt wird der Entwicklungsprozess aber auch, wenn normal adoleszentäres Verhalten zum Problem gemacht oder gar verboten wird. Ein sorgfältiges Hinschauen und Abwägen, ein vorsichtiges Akzeptieren manchmal auch störender Verhaltensweisen, ein beherztes Annehmen, und wenn nötig die Unterstützung von Fachleuten helfen Jugendlichen, ihren Weg ins Erwachsenwerden zu meistern.

www.sucht.bs.ch, www.feel-ok.ch

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 11.02.2016.

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