Die Kunst der Achtsamkeit

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Weg vom Autopilotmodus und hin zu mehr Achtsamkeit. Dr. med. Christine Poppe, Chefärztin Psychotherapie und ambulante Psychiatrie im Sanatorium Kilchberg, über einen Weg, das Leben in all seinen Farben wahrzunehmen.

Im Alltag befinden wir uns häufig in einem Autopilotmodus. Dabei bewerten wir pausenlos, was wir erleben. Wir ärgern uns, wenn ausgerechnet vor uns die Ampel auf Rot springt und rufen wütend aus. Manchmal ist die Reaktion auch viel subtiler; wir wachen morgens mit einem unguten Gefühl auf und tragen es in den Tag hinein. Ein anderes Mal sind wir gar nicht richtig anwesend und verpassen so, ein feines Essen wirklich zu geniessen.

christine_poppe_sliderEvolutionsbiologisch gesehen haben diese Reaktionsweisen durchaus ihren Sinn. Sich zu sorgen und schnell zu reagieren diente dem Überleben in einer unsicheren Umgebung. Aber nicht alles lässt sich sofort und gleich verändern. Geduld ist gefragt. Unangenehmes und Schmerzliches gehören zu unserem Leben.

Achtsamkeit ist eine besondere Art und Weise, sich dem Leben gegenüber so zu verhalten, wie es ist, ohne es sich unnötig schwer zu machen und gleichzeitig seinen ganzen Reichtum zu erfahren. Die verschiedenen Kulturen haben in den vergangenen Jahrhunderten ihre eigene Art entwickelt, Achtsamkeit zu pflegen. Achtsamkeit ist Bestandteil der hinduistischen und buddhistischen Meditations- und Yogapraxis und der christlichen Kontemplation. Jon Kabat-Zinn, der mit als erster Konzepte der Achtsamkeit in die Psychotherapie integrierte, definiert das so: ,Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Art aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu bewerten.’

Im Autopilotmodus kann es sein, dass Ereignisse, Gedanken, Gefühle und Empfindungen unbewusst alte Denkgewohnheiten aktivieren, die zu Anspannung führen und die Situation nicht unbedingt verbessern. Wenn wir uns unserer Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen im gegenwärtigen Moment bewusst werden, schaffen wir eine Wahlmöglichkeit und die Freiheit, uns bewusst zu entscheiden, wie wir mit unserem Erleben umgehen. Auf diese Weise müssen wir nicht mehr unseren alten Gewohnheiten folgen.

Nicht-Bewerten heisst, allen Erfahrungen mit Aufmerksamkeit zu begegnen, ohne diese gewohnheitsmässig zu beurteilen. In dem Bewusstsein, dass kein Augenblick dem anderen gleicht, können wir uns dem Leben gegenüber öffnen und jeden Moment neu erleben. Schmerz und Freude vergehen. Achtsamkeit fördert das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten. Dabei müssen wir lernen, das, was ist, zu akzeptieren, anstatt uns aufzulehnen und unnötig Energie zu verschwenden. Erkennen, wenn wir uns in dem Versuch, etwas unbedingt erreichen zu wollen, aufreiben. Loslassen können, wenn wir uns gedanklich mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigen und so die Gegenwart verpassen.

Machen Sie ein Experiment und widmen Sie sich einer einzigen Rosine so, als ob Sie noch nie eine Rosine gegessen hätten. Stellen Sie sich vor, Sie kämen vom Mars und wollten dort von Ihren Erfahrungen berichten. Wie sieht die Rosine aus? Welche Farben und Formen erkennen Sie? Wie fühlt sie sich an? Wie riecht sie? Was können Sie hören, wenn Sie die Rosine ans Ohr halten? Wie fühlt es sich an, wenn Sie die Rosine an den Mund führen, auf die Zunge legen, langsam kauen. Welche Qualitäten können Sie schmecken? Nehmen Sie den Impuls wahr zu schlucken, bevor sie die Rosine herunterschlucken. Was spüren Sie? Danach essen Sie eine zweite Rosine, so wie immer, und vergleichen Ihre beiden Erfahrungen. Möglicherweise wird Ihnen die Übung merkwürdig erscheinen, vielleicht entdecken Sie aber auch ungeahnte Sinnesqualitäten.

Wählen Sie eine Routinetätigkeit in Ihrem Alltag und führen Sie diese achtsam aus, so wie es bei der Rosinenübung beschrieben ist. Das morgendliche Duschen, das Zähneputzen, einen Kaffee oder Tee trinken, ein Gipfeli essen, Treppensteigen, ein Stück Weg gehen. Konzentrieren Sie sich darauf, diese Handlung bewusst auszuführen und wahrzunehmen, was Sie erleben.

Nehmen Sie sich jeden Abend vor dem Zubettgehen Zeit, um sich mindestens drei angenehme Erlebnisse des Tages zu notieren. War Ihnen die angenehme Erfahrung während des Erlebens bewusst? Wie hat sich in diesem Moment Ihr Körper angefühlt? Welche Gedanken und Gefühle gingen mit dem angenehmen Erleben einher? Wie fühlt es sich jetzt an, darüber nachzudenken? Tun Sie das mindestens eine Woche lang.

Wenn Sie eine Woche lang angenehme Erlebnisse notiert haben, können Sie vielleicht ein bestimmtes Muster erkennen. Manchen Menschen geht es so, dass ihnen auf diese Art und Weise zum ersten Mal wieder bewusst wird, was das Leben alles zu bieten hat. Wie viel stille Freude damit verbunden sein kann, in Ruhe eine Tasse Tee zu trinken, den Tisch sorgfältig zu decken. Überlegen Sie sich, was von all dem Sie in Zukunft häufiger erleben möchten und wie Sie dies in Ihren Alltag aufnehmen können.

Weitere Informationen erhalten Sie unter www.sanatorium-kilchberg.ch.