Die Sucht, über die niemand spricht

Es war der Wahnsinn! So beschreibt eine Leserin ihre jahrzehntelange Abhängigkeit von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Gemeinsam schafften wir den Ausstieg.

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Mein Arzt gab mir ein Temesta-Rezept für ein ganzes Jahr, sodass ich jederzeit das Beruhigungsmittel holen konnte. Davon machte ich dann auch rege Gebrauch, ohne zu ahnen, dass das schlecht ist. Manchmal nehme ich das Temesta schon am Morgen, wenn Angstgefühle mich beschleichen. Nie gehe ich ohne Temesta aus dem Haus. Eine Zeit lang schlief ich recht gut. Aber die Wirkung liess mehr und mehr nach. Es wurde für mich wie Zuckerwasser. Die Schlafprobleme wurden schlimmer, und ich wurde immer unruhiger. Nächtelang war ich wach. Am Tag darauf war ich fix und fertig. Und alles tat mir weh.“

Abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln

Diese Patientin war im höchsten Masse abhängig von ihrem Schlaf- und Beruhigungsmittel. Und das Schlimme daran: Es ist eine von ihren Ärzten verursachte Sucht. Weiter hinnehmen und zusehen, wie sie körperlich und seelisch verarmte, wollte sie nicht. Sie nahm mit uns Kontakt auf, um von Temesta loszukommen. In ganz kleinen Schritten reduzierten wir über mehrere Wochen die Dosierung. Gleichzeitig gingen wir das Schlafproblem an. Nicht mit Medikamenten, sondern mit einfachen, aber sehr wirksamen Verhaltensmassnahmen. Wir besprachen auch Mittel und Wege, um Unsicherheiten und Ängste in Zukunft besser aushalten und sogar kreativ nutzen zu können. Schon nach kurzer Zeit berichtete uns die Leserin folgendes: „Das Temesta kann ich schön langsam abbauen, ohne Entzugserscheinungen. Ich bin geistig schon viel wacher und weniger vergesslich als früher. Es ist fantastisch, dass ich endlich von diesem Zeug wegkomme. Auch mit Schlafen geht es viel besser. Ich gehe viel später zu Bett, nehme alles viel leichter und habe ganz tolle Nächte, wo ich wirklich nach kurzer Zeit einschlafen und komplett durchschlafen kann. Irgendwie geniesse ich es, jetzt mehr Zeit für anderes zu haben.“

Der Entzug kann Monate dauern

Längst nicht immer verläuft ein Benzodiazepin-Entzug so problemlos wie in diesem Fall. Er dauert zum Beispiel wesentlich länger als ein Alkoholentzug. Die Symptome können sehr vielfältig und auch sehr gravierend sein. Typisch sind Schlafstörungen, Angst, Verstimmtheit, Zittern, Muskel- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Brechreiz und Appetitverlust. Auch Wahrnehmungsstörungen, Überempfindlichkeit und das Gefühl der Unwirklichkeit werden häufig beobachtet. Gefürchtet sind Psychosen und epileptische Anfälle. Eine weitere Besonderheit des Benzodiazepin-Entzuges sind die sogenannten prolongierten Entzugssymptome. Über Wochen bis Monate leiden die Patienten an Phasen, in denen die Entzugssymptome wieder auftreten. Aus all diesen Gründen dürfen Benzodiazepine nie schlagartig abgesetzt, sondern müssen langsam ausgeschlichen werden. So lassen sich Entzugssymptome auf ein Minimum reduzieren oder sogar fast ganz vermeiden.

Die Welt neu kennenlernen

Wer jahrelang Schlaf- und Beruhigungsmittel genommen hat, wird nach dem Entzug die Welt neu kennenlernen. Die Betroffenen sind in hohem Masse überrascht, wie ungewöhnlich klar sie plötzlich alles wahrnehmen und realisieren, wie stark ihre Empfindungen durch die Benzodiazepine eingeschränkt waren. Eine andere Leserin berichtete, es sei so, als wenn jemand einen Vorhang hochgezogen habe.

Neuer Umgang mit Stress

Angstzustände, die nach der akuten Phase des Entzuges weiterhin auftreten, sind möglicherweise die Folge davon, dass ein durch Benzodiazepine verursachter Lerndefekt aufgedeckt wird. Benzodiazepine haben die Eigenschaft, das Erlernen neuer Fähigkeiten zu beeinträchtigen, einschließlich von Strategien, Stress erfolgreich zu bewältigen. Ihre Entwicklung kann während der Jahre, in denen Benzodiazepine genommen werden, blockiert werden. Die vollständige Erholung von diesen Zuständen kann viele Monate in Anspruch nehmen und erfordert das Erlernen neuer Mittel und Wege mit Stress umzugehen, anstelle der Einnahme einer Tablette.

Wir können uns dem Rat unserer Leserin nur anschliessen: „Finger weg von Schlaf- und Beruhigungsmitteln! Die machen uns mit der Zeit nur fertig und krank. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, von ihnen loszukommen. Wenn ich zurückblicke, ist es der pure Wahnsinn!“

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 17.08.2023.

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