Verzweiflung, Angstzustände, Selbstverletzungen. Eine Leserin hat Angst, dass ihr Partner wegen seines Tinnitus noch durchdreht. Lesen Sie, was Dr. Rahul Gupta, Co-Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Graubünden und Leiter der Tinnitus-Klinik in Chur, dazu sagt.
«Das Problem betrifft meinen Lebenspartner. Er leidet nun schon seit drei Jahren an einem schlimmen Tinnitus, der sich in der Intensität und in den Geräuschen immer wieder verändert. Manchmal ist es so schlimm, dass er keinen Schlaf und auch sonst keine Ruhe findet. Er hat teilweise regelrechte Angstzustände. Manchmal muss er sich selber Schmerzen zufügen, um den Tinnitus zu übertönen. Wenn es ganz schlimm ist, habe ich Angst, dass er durchdreht. Auch versucht er in seiner Verzweiflung, dem Ganzen mit Betäubungsmitteln Herr zu werden, was immer wieder zu Streit zwischen uns führt und die ganze Situation nur noch verschlimmert.
Ich weiss, dass man gegen diese nervtötenden Geräusche nichts machen kann, und trotzdem bin ich immer auf der Suche nach etwas, das es erträglicher machen könnte. Ich fühle mich von seinem Hausarzt und vom Psychiater alleine gelassen, denn ich werde gar nicht miteinbezogen, und mein Partner ist manchmal so überfordert und überreizt, dass ich auch für ihn denken muss. Ich arbeite 100% und bin zeitweise ziemlich ausgelaugt. Können Sie uns einen Tipp oder eine Anregung geben? Ich suche in alle Richtungen, von Alternativmedizin über meditieren bis beten, aber mein Partner mag nicht x-beliebige Sachen ausprobieren.»
Ein Gespräch mit der Leserin ergibt, dass ihr Partner schon seit Jahren eine ganze Reihe von Enttäuschungen und seelischen Verletzungen erleben musste, ohne dass er je Zeit und die innere Kraft gehabt hat, diese zu verarbeiten und loszulassen. Deshalb der Rat an beide, dem Tinnitus einmal eine Gestalt zu geben, ihn zu zeichnen, oder ihn in Ton mit den Händen anzufertigen, damit er sichtbar gemacht werden kann, fassbarer wird und gleichzeitig seine Bedrohlichkeit verliert.
Zwei Wochen später meldet sich die Leserin erneut und schreibt: «Ich will mich noch einmal für das Gespräch bedanken. Es hat mir sehr geholfen, und Sie haben uns ein paar interessante, neue Ansätze gezeigt. Ich habe danach lange mit meinem Partner geredet. Die Idee, dem Tinnitus mal eine Gestalt zu geben, ist bei ihm sehr gut angekommen. Nun muss diese noch umgesetzt werden. Was ich ganz gut gefunden habe, ist Ihre Aussage, dass da eine unverarbeitete Trauer zu sein scheint. Das hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Je länger ich mich mit dem ganzen Thema beschäftige, desto klarer wird alles. Der Tinnitus ist die einzig logische Folge der jahrelangen Überlastung. Nun müssen wir es schaffen, zum Kern allen Übels vorzudringen.»
Dr. med. Rahul Gupta, Co-Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Graubünden und Leiter der Tinnitus-Klinik in Chur, erläutert dazu: Die Partnerin eines an Tinnitus erkrankten Menschen beschreibt auf sehr eindrückliche Art und Weise einerseits das Leid ihres Partners wegen des Ohrgeräuschs, andererseits aber auch die Auswirkung, die dieses Geräusch auf das Leben der beiden hat. Die geschilderten Symptome, gehören zu den typischen, die im Zusammenhang mit Tinnitus auftreten.
Es geht aber noch weiter. Sie berichtet davon, dass ihr Partner sich selber manchmal Schmerzen zufügen muss, um den Tinnitus zu übertönen. Er versuche auch in seiner Verzweiflung, dem Ganzen mit Betäubungsmitteln Herr zu werden. Wenn es ganz schlimm sei, habe sie Angst, dass er durchdrehe. Diese Situation stellt sicher eine Extremform der Belastung dar. Bei einer reinen Betroffenheit durch Tinnitus ist es eher ungewöhnlich, dass Patienten sich selber verletzen. Es ist aber bekannt, dass Tinnitus häufig in Verbindung mit anderen psychischen Krankheiten auftritt. Im vorliegenden Falle scheint es so, als wenn die Belastung des Betroffenen so gross wird, dass es bei ihm zu einem Kontrollverlust und zu impulsiven Durchbrüchen kommt. Solche impulsiven Durchbrüche sind bei Tinnitus eher selten. Bei anderen psychischen Erkrankungen kommen sie durchaus vor.
In ihrer eindrücklichen und berührenden Schilderung hat die Partnerin des Patienten auch aufgezeigt, was für Auswirkungen der Tinnitus – und wahrscheinlich die psychische Erkrankung – auf das gemeinsame Leben hat. Dies ist ein Phänomen, dass sich bei psychischen Erkrankungen sehr häufig zeigt und dem die Behandelnden unbedingt Rechnung tragen müssen. Die Angehörigen müssen zwingend in die Behandlung miteinbezogen werden, und ihnen müssen entsprechende Angebote gemacht werden, wie auch sie sich entlasten können.
In diesem konkreten Fall rate ich aus fachärztlicher Sicht dringend dazu, mögliche Begleiterkrankungen abzuklären. Wenn feststeht, welche anderen psychischen Erkrankungen bestehen, kann festgelegt werden, ob zuerst die begleitende psychische Erkrankung behandelt werden muss, oder ob direkt mit der Behandlung des Tinnitus begonnen werden kann.
Nun zur Frage: Was ist Tinnitus? Es ist der Fachausdruck für alle Arten von Ohr- oder Kopfgeräuschen und leitet sich vom lateinischen Wort «tinnire» ab. Er ist in den westlichen Industrienationen zu einer häufigen Erkrankung geworden. Die Symptome des Tinnitus sind vielfältig. Im Vordergrund steht ein störendes Ohrgeräusch. Dieses kann sich ganz unterschiedlich anhören. Neben den Ohrgeräuschen kommt es durch den Tinnitus aber zu verschiedensten Symptomen. Einerseits ruft ein Tinnitus körperliche Folgen wie Schlafstörungen, Erschöpfung, Nervosität und innere Unruhe hervor. Andererseits ist aber auch die Gefühlswelt betroffen. Es treten Symptome wie Reizbarkeit, emotionale Labilität, traurige Stimmung, Besorgtheit und auch Suizidalität auf. Letztendlich kann der Tinnitus verschiedene soziale Folgen haben: Rückzug mit zunehmender Vereinsamung, partnerschaftliche Probleme, starker Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit, der letztendlich zur Erwerbsunfähigkeit führen kann.
Im Mittelpunkt der Tinnitus-Behandlung steht das Erarbeiten eines psychosomatischen Krankheitskonzeptes. Der Tinnitus zeigt sich in erster Linie als körperliches Symptom. Betroffene glauben daher meist, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt. Beim psychosomatischen Krankheitskonzept ist es möglich, aufzuzeigen, dass seelische Faktoren körperliche Beschwerden beeinflussen oder sogar auslösen können. Diese Zusammenhänge zu erkennen, ist für den Patienten wichtig. Denn sobald die psychischen Faktoren reguliert werden können, kann sich auch der Tinnitus verbessern.
Ziel der Tinnitus-Behandlung ist es nicht, den Tinnitus verschwinden zu lassen, sondern dem Patienten zu ermöglichen, mit seinem Tinnitus zu leben. Hilfreich ist dabei die Tinnitus-Retraining-Therapie, aufgebaut auf verschiedenen Bausteinen.
Wer unter Tinnitus leidet, findet in verschiedenen Quellen hunderte Tipps und Ratschläge. Die Fülle dieser Informationen kann erschlagend sein. Wir haben einige einfache Empfehlungen zusammengestellt, die sich in unserer langjährigen Arbeit mit Tinnitus-Betroffenen als hilfreich erwiesen haben:
- Lassen Sie abklären, ob körperliche Ursachen für den Tinnitus vorliegen.
- Lernen Sie die Aufmerksamkeit weg vom Tinnitus und hin zu anderen Sinneseindrücken zu lenken.
- Sorgen Sie für viel Schlaf und Entspannung. Schlafmangel und Stress lassen den Tinnitus oft lauter werden.
- Treiben Sie Sport. Das hebt die Stimmung. Ideal sind Sportarten, die den Kreislauf nicht zu sehr belasten.
- Meiden Sie Alkohol, Nikotin und Koffein. Sie können den Tinnitus verstärken.
Die Tinnitus-Klinik
Die Psychiatrischen Dienste Graubünden bieten eine Behandlung des Tinnitus in der Tinnitus-Klinik an. In einem spezialisierten stationären Programm kann der Tinnitus behandelt werden. In der Regel dauert die Behandlung vier Wochen, eine Verlängerung um weitere vier Wochen ist möglich.