Kann eine Krankheit wie MS eine Chance sein und dem Leben sogar einen tieferen Sinn geben? Ja, wie der Bericht von Therese Lüscher zeigt.
Vor 20 Jahren brach meine Welt auf einen Schlag zusammen. Ich stand vor einem grossen Trümmerberg. Schon während unserer Sommerferien im Tessin bemerkte ich beim Wandern Dinge, die ich nicht einordnen konnte. Ich wurde immer langsamer und trittunsicher und konnte meine Füsse nicht mehr anheben. Die Beschwerden wurden ausgeprägter und verunsicherten mich zusehends. Kurze Zeit später erhielt ich die Diagnose: Multiple Sklerose. Zuerst machte sich bei mir eine grosse Erleichterung breit, meine Beschwerden hatten einen Namen. Doch gleichzeitig realisierte ich, was diese Diagnose bedeutet. Widerstrebende Gefühle machten sich breit. Wie wird mein Lebensweg aussehen? Wird die Krankheit schnell fortschreiten? Wie kann ich mit dieser Diagnose einen sinnvollen Alltag gestalten? Werde ich meinen Beruf aufgeben müssen? Meine Freizeitbeschäftigungen? Ich sah nur noch einen grossen Berg vor mir. Angst und Verzweiflung bestimmten meinen Alltag. Ich habe es immer geliebt zu arbeiten, engagierte mich gerne nebenberuflich, pflegte Kontakt mit vielen lieben und interessanten Menschen, mit denen ich diskutieren und lachen konnte, liebte das Kochen, meine Musik, die langen Hundespaziergänge, den Garten, das Zusammensein mit meinen gerade erwachsen gewordenen Kindern und ihren Freunden. Was wird davon übrig bleiben? Fragen über Fragen, auf die mir auch mein Arzt keine Antwort geben konnte.
Doch glücklicherweise siegte schon bald wieder mein Optimismus. Mir war klar, dass ich mit dieser Diagnose nur leben konnte, wenn ich alles, aber auch wirklich alles über die Krankheit wusste. So fand schon bald ein erster Kontakt mit der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft statt. Ich meldete mich unverzüglich als Mitglied an, bestellte alle Unterlagen und vertiefte mich stundenlang in die Infoblätter. Es folgten Besuche von Kursen und Informationsveranstaltungen, ich nahm die Beratungen in Anspruch und fühlte mich aufgehoben und vor allem verstanden. Ich war mit all meinen Fragen und Ängsten nicht mehr allein und bekam durch die Gespräche wieder Mut und Kraft, meinen Alltag zu bewältigen.
Gesundheitlich ging es mir immer schlechter, mein ganzes Leben wurde auf den Kopf gestellt. Schon bald musste ich meinen Beruf aufgeben. Glücklicherweise blieb mir noch meine Behördentätigkeit, die mir immer Freude und Befriedigung brachte. Hier konnte ich mir selber beweisen, dass ich noch fähig war, einer wichtigen und sinnvollen Arbeit nachzugehen. Auf dem physisch und psychisch absoluten Tiefpunkt meines Lebens stand ich vor der persönlichen Entscheidung zwischen Pflegeheim oder Selbständigkeit. Ich entschied mich zu kämpfen. Mit Unterstützung meiner Kinder und Freunde konnte ich meine allerletzte Kraft mobilisieren und bezog eine eigene rollstuhlgerechte Wohnung. Ich wollte wieder selber über mein Leben bestimmen. Dieser Befreiungsschlag war der Anfang zu einem neuen und reichen Leben. Von da an erholte ich mich nach jedem Schub besser. Heute lebe ich in meiner eigenen behindertengerecht ausgebauten Wohnung und bewältige den Alltag mit Unterstützung von guten Geistern im Haushalt oder – falls nötig – bei der Gartenarbeit. Wenn meine Energie ausreicht, stehe ich auch wieder in der Küche, koche Konfitüre oder backe Dinge, die ich dann meistens verschenke. Diese Beschäftigungen machen mir Spass, verleihen mir grosse innere Zufriedenheit und tragen viel zu meiner Lebensqualität bei.
Mit zunehmendem Interesse an der Arbeit der MS-Gesellschaft begann ich schon bald, mich zugunsten Betroffener zu engagieren. Mir wurde geholfen, weshalb sollte ich nicht auch andern Menschen helfen? Es folgte die Gründung der Regionalgruppe Zürcher Oberland, die ich noch heute präsidiere. Gemeinsam mit meinem Team organisieren wir für unsere Mitglieder Aktivitäten verschiedenster Art. Wir wollen die Betroffenen und ihre Angehörigen aus dem oft traurigen und mühseligen Alltag herausholen, ihnen Zuversicht, Abwechslung und Freude bringen. Persönliche Gespräche sind für mich eine grosse Bereicherung. Mittlerweile kenne ich jedes einzelne aktive Mitglied und seine Angehörigen, ich bewundere den Mut, mit dem sie sich oft durchs Leben kämpfen müssen. Die Dankbarkeit, die Freude, die oft aus den Augen strahlt, berührt mich tief.
Eines folgte dem andern. Heute bin ich zuständig für die Regionalgruppen der Deutschschweiz. Ich pflege den persönlichen Kontakt mit den Gruppen, nehme an Tagungen teil, besuche deren Anlässe und fühle mich jedes Mal bereichert. Seit über vier Jahren darf ich im Vorstand der Schweiz. MS-Gesellschaft mitarbeiten und meine persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit wie auch mit der Regionalgruppenarbeit einbringen. Im Laufe der Jahre habe ich die Bedürfnisse der Betroffenen gut kennen gelernt. So ist es mir ein ganz grosses Anliegen, für diese Menschen zu kämpfen, ihnen Gehör zu verschaffen und alles zu unternehmen, um sie und ihre Angehörigen auf ihrem Weg zu unterstützen und sie gut zu begleiten.
Die letzten 20 Jahre waren eine einzige Berg- und Talfahrt. Unzählige Schübe schränkten mich immer wieder ein und belasteten mich sehr. Schon bald stand die Anschaffung meines ersten Rollstuhls zur Diskussion. Nach grossen inneren Widerständen lernte ich, meinen neuen roten Porsche zu akzeptieren. Ich begriff, dass mir der Rollstuhl ein grosses Stück Freiheit zurückgab. Endlich konnte ich wieder raus in die Natur, konnte auf einen Stadtbummel, zum Shopping oder ins Museum. Gemeinsam mit Kollegen geht es mit Rolli und Swiss-Trac auf Erkundungstouren, mein Leben wurde wieder reich an Abwechslung. Seit meinem letzten Schub war der Rolli endgültig mein treuer Begleiter. Ich lernte zu akzeptieren, darin zu sitzen. Viel wichtiger wurde mir, dass mein Kopf funktionierte, damit ich meinen Aufgaben nachgehen und mein grosses Hobby ausüben konnte. Nachdem ich mich von meinen Musikinstrumenten aus gesundheitlichen Gründen schweren Herzens und mit sehr viel Wehmut trennen musste, verlegte ich mich auf Chorgesang. Mittlerweile ist das Singen ein ganz wichtiger Aspekt meines Lebens geworden. Es fordert mich – genau wie meine Aufgaben bei der MS-Gesellschaft – fördert aber auch meine kognitiven Fähigkeiten. Ich bin überzeugt davon, dass solche Aktivitäten einen grossen positiven Einfluss auf die geistige Vitalität ausüben. Auch das Autofahren eroberte ich mir nach jedem Schub wieder zurück. Durch die grosse Müdigkeit bei den Schüben ist mein Radius anfangs sehr klein, doch weitet er sich immer schnell aus, und dann geniesse ich es, wenn ich mit meinem Opel unterwegs sein kann. So freue ich mich auch jedes Mal sehr, wenn ich wieder zu meiner Tochter und deren Familie, die seit vielen Jahren in Kanada leben, in den Urlaub fliegen kann. Meine Unternehmungslust und meine Lebensfreude kann mir auch meine MS nicht nehmen.
Schon kurz nach der Diagnose erhielt ich das erste MS-Medikament, damals noch ein Interferonpräparat. Dadurch gelang es mir immer wieder, mich zu erholen und meine Energie zurückzugewinnen. Mit dazu beigetragen hat auch die Physiotherapie, die ich von Anbeginn an regelmässig besuche. Aber auch die Rehabilitationsaufenthalte halfen mit. Intensive Therapien in Valens haben mich gefordert, aber auch gefördert und mich jedes Mal wieder auf die Beine gestellt. Seit einiger Zeit erhalte ich nun ein neues MS-Medikament. Es hat mich aus dem Rollstuhl geholt. Es gab mir die Fähigkeit zurück, zu Fuss unterwegs zu sein. Es kann sich wohl niemand vorstellen, wie ich jeden Schritt geniesse.
Heute betrachte ich meine MS als eine grosse Chance für mich. Durch diese Krankheit bekam ich Energie zum Kämpfen. Im Laufe der Jahre wurde ich immer selbständiger, stärker, bestimme heute mein Leben selber. Es ist nicht mehr dasselbe Leben, ich pflege andere Interessen, habe meine eigenen Freunde, mit denen ich diskutieren, aber auch lachen kann. Vor allem aber mein Engagement für die MS-Gesellschaft bringt mir Kraft und Zuversicht für den Alltag. Mein Leben hat trotz – oder vielleicht dank – MS einen tieferen Sinn erhalten.
Schutz vor Hirnabbau
Wenn die Multiple Sklerose in Gestalt von aggressiven weissen Blutkörperchen die Blut-Hirn Schranke überwindet, beginnen Prozesse, die für den Verlauf der Erkrankung entscheidend sind. Seit Längerem ist bekannt, dass MS die Nervenhüllen schädigt. Neu hingegen ist das Wissen über den beschleunigten Gehirnabbau. Dieser Prozess geht in der Anfangsphase der Erkrankung meist schleichend, von den Patienten unbemerkt, vonstatten. Bleibt der Verlust an Hirnmasse unbehandelt, kann das für die Patienten irreparable intellektuelle Einschränkungen zur Folge haben. Auch bei der für die MS typischen Fatigue geht man heute davon aus, dass sie in einem engen Zusammenhang mit dem Hirnabbau steht.
Ohne eine adäquate Therapie schrumpft die Hirnsubstanz eines MS-Patienten jährlich etwa in der Grössenordnung eines Esslöffels. Der Denkapparat ist zunächst in der Lage, das Defizit auszugleichen, so dass die Folgen oft erst spät erkannt werden. Doch je mehr Gewebe verloren geht, desto offensichtlicher zeigen sich die Symptome. Dann ist es meist schon zu spät und die Schäden sind bereits irreparabel. Infolgedessen kommt es bei rund 70 Prozent der MS-Patienten zu geistigen Einschränkungen wie verminderte Konzentrationsfähigkeit, Sprachstörungen sowie zur Verlangsamung im Denken und im Erfassen von Informationen. Auch motorische Einschränkungen wie Gleichgewichts- und Koordinationsprobleme können die Folge sein.
Ziel ist es deshalb, Patienten so früh wie möglich vor dem übermässigen Hirnabbau und dessen Folgen zu schützen. Moderne Therapieoptionen sollten daher rechtzeitig bei MS-Patienten zum Einsatz kommen. Denn nur durch den Schutz des Hirngewebes kann der Verlust auf dem Niveau eines gesunden Menschen gehalten und das Fortschreiten der Krankheitssymptome verringert werden.