Ein R-Wert von 0,8 ist reines Wunschdenken

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Wieder einmal wartet die Schweiz gebannt auf die Entscheide des Bundesrates. Werden die Restriktionen verlängert oder sogar noch verschärft? Kommt erneut ein Lockdown wie im letzten Frühjahr? Warnende Stimmen gibt es in und ausserhalb der Taskforce genug. Im Februar und März drohten uns ähnliche Szenarien wie in England, wenn wir jetzt nicht umgehend harte Massnahmen treffen, heisst es.

Fehlendes Eingeständnis des Bundesrates

Will man die hochgesteckten Ziele erreichen – eine Halbierung der Fallzahlen alle zwei Wochen und eine Reproduktionszahl von 0,8 – kommt man um einen scharfen Lockdown nicht herum. Doch solche Ziele sind in der gegenwärtigen Lage völlig unrealistisch. Wir befinden uns mitten im Winter, wo die Populationsempfänglichkeit für Atemwegserkrankungen naturgemäss am höchsten ist. R-Werte um 0,8 oder sogar noch darunter sind reines Wunschdenken und selbst mit den härtesten Massnahmen nicht machbar, schon gar nicht langfristig. Der Bundesrat weiss das genau und sollte das endlich offen zugeben. Er muss nur in die umliegenden Länder schauen. Sie schlittern von einem Lockdown zum nächsten, ohne die Infektionszahlen nachhaltig drücken zu können. Das Virus ist immer noch da, es ist immer noch Winter. Und die Menschen sind müde und depressiv, viele können schlicht nicht mehr, auch finanziell.

Testen und Impfen statt Lockdown

Klar, kann man dem Virus nicht einfach freien Lauf lassen. Das wäre völlig abwegig. Aber man muss die Massnahmen möglichst zielgerichtet und effizient ausgestalten, damit sie den grösstmöglichen Nutzen entfalten und den kleinstmöglichen Schaden anrichten. Neues Ziel sollte ein R-Wert um eins sein. So steigen die Infektionszahlen wenigstens nicht an. Statt einen kompletten Lockdown zu verordnen, müssen jetzt die Risikogruppen so schnell wie möglich geimpft werden. Mit der Zulassung des zweiten Impfstoffes, der der Schweiz auf einmal Millionen von Dosen beschert, sollte das bis spätestens Februar – und nicht erst bis Ende März – machbar sein. Bis dahin müssen die Bewohner und das Personal von Alters- und Pflegeheimen mindestens einmal pro Woche getestet werden. So würde die Zahl der Spitaleinweisungen und Todesfälle drastisch sinken.

Das Versagen der Schutzkonzepte

Die Mehrheit der Menschen, die in der Schweiz an oder mit Corona sterben, haben in einem Heim gelebt, mit Vorerkrankungen auf engstem Raum. Im Kanton Baselland waren es sogar zwei Drittel der Verstorbenen. Selbst die gut gemeinten und sorgfältig umgesetzten Schutzkonzepte haben diese Tragödie nicht verhindern können. Endlich machen sich jetzt verschiedene Kantone daran, diese Hotspots der Pandemie mit einer neuen Teststrategie anzugehen. Es brauchte fast 8000 Todesfälle, bis diese Einsicht reifte, obwohl das Wissen schon nach der ersten Welle da war.

Ein Weg so präzis wie eine Schweizer Uhr

Und noch etwas brauchen wir alle sehr dringend für die letzte, entscheidende Phase: eine Taskforce, die den Kampf gegen das Virus nicht nur auf dem Papier und in Computermodellen führt, sondern im Alltag. Wissenschaftler, welche die Regierung unaufgeregt beraten, statt Selbstdarsteller, die mit ihren Tweets und Interviews die politischen Entscheidungsträger, die das Gesamtwohl der Bevölkerung im Auge behalten müssen, permanent unter Druck setzen. Das ständige Geschrei nach harten Massnahmen nervt, weite Teile der Bevölkerung und den Bundesrat. Wir können nicht von einem Lockdown in den nächsten fallen, wie es gerade einige andere Länder tun. Wir brauchen einen eigenständigen, intelligenten Schweizer Weg, der so präzis ist wie eine Schweizer Uhr. Dann können wir am besten menschliches Leid verhindern, ohne uns alle einzusperren.