Eine aus Deutschland stammende Pflegefachfrau, ein indischer Informatiker, ein aus Afghanistan Geflüchteter, eine technische Zeichnerin, deren Eltern aus Italien stammen, ein Fussballspieler aus dem Kosovo. In der Schweiz leben viele Menschen, deren Wurzeln woanders liegen. Migration ist allgegenwärtig. Ihre Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit werden oft nur wenig beachtet.
Insbesondere bei Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten sind die traumatischen Erfahrungen zentral. Am kompetentesten werden sie in spezialisierte Zentren für Trauma- und Folteropfer betreut.
Ein Grossteil der Migration von Menschen in die Schweiz erfolgt aufgrund eines Bedarfs an Arbeitskräften. Vor allem in internationalen Schweizer Firmen arbeiten immer mehr Menschen, die aus beruflichen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Oftmals in Positionen mit hohen Anforderungen, wodurch ihnen ein Ausgleich zwischen Arbeit, Familie und Freizeit erschwert wird. Die Distanz zur eigenen Herkunftsfamilie, zum sozialen und unterstützenden Netzwerk sowie Unterschiede in kulturellen Gepflogenheiten sind zusätzliche Belastungen. Für Expats besteht die Herausforderung darin, dass sie nur für einen begrenzten Zeitraum in der Schweiz leben. Häufig reicht die Zeit nicht aus, um eine der Landessprachen zu lernen. Eine sprachfremde Umgebung stellt ein besonders hohes Risiko für die psychische Gesundheit dar.
Diskriminierungserfahrungen
Die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten können unterschiedlicher nicht sein, eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Man begibt sich aus der gewohnten Umgebung heraus in eine fremde Welt. Ein Realitätsschock ist umso wahrscheinlicher, je grösser die geografische Distanz im Migrationsprozess ist und je geringer das Wissen über die Kultur des Ziellandes.
Eine Überblicksstudie belegt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Depressionen bei Immigrantinnen und Immigranten und ethnischen Minderheiten in 26 Ländern in Europa, insbesondere in der Schweiz. Zudem zeigt die erste Migrationsgeneration ausgeprägtere depressive Symptome. Dagegen spielen Geschlecht, Alter und Partnerschaft beim Schweregrad der Depression keine Rolle. Mangelndes Zugehörigkeitsgefühl, ein geringer sozioökonomischer Status sowie konkrete Diskriminierungserfahrungen, insbesondere auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sind potenzielle Risikofaktoren einer depressiven Entwicklung.
Neue Erkenntnisse aus der Stressforschung zeigen: Blockaden individueller Ziele und eine mangelnde Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse sind zentrale Faktoren für stressbedingte Erkrankungen. Ob unsere Grundbedürfnisse nach Selbstwerterhaltung, Bindung oder Kontrolle befriedigt werden können, ist nie von uns allein abhängig, sondern immer auch von äusseren Bedingungen und anderen Menschen. Es ist eine Wechselwirkung, bei der nicht nur individuelle, sondern auch soziale und kulturelle Faktoren eine erhebliche Rolle spielen. Beispielweise wird in einigen Kulturen davon ausgegangen, dass Wünsche und Bedürfnisse von anderen «gelesen» werden können. Eine explizite Wunschäusserung wird entgegen unseren Gepflogenheiten als unpassend oder gar unerhört angesehen. Jemand mit solch einer kulturellen Prägung wird somit in unseren Breitengraden meist übergangen. Dadurch entwickeln sich Schwierigkeiten, ein unterstützendes Netzwerk aufzubauen, da sich die Person von anderen nicht ernst genommen fühlt.
Grundsätzlich neigen Menschen in einem fremden kulturellen Umfeld zu zwei gegensätzlichen, aber gleichermassen ungünstigen Bewältigungsstrategien: Überanpassung und Rückzug. In beiden Fällen spielt die Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung eine massgebliche Rolle. Ein überangepasstes Verhalten orientiert sich an den tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen anderer und kann bei besonders starker Ausprägung einer Selbstverleugnung gleichkommen. Im Arbeitskontext zeigt sich Überanpassung häufig mit ausgeprägtem Leistungsstreben, Konfliktvermeidung und einer exklusiven Orientierung an vorgegebenen Normen. Auch wenn solche Verhaltensweisen in politischen Diskussionen oft als Paradebeispiel gelungener Integration dargestellt werden, aus therapeutischer Sicht sind sie problematisch, da sie das individuelle Bedürfnis nach Autonomie untergraben und zu innerem Stress führen.
Akzeptanz und Zugehörigkeit
Es gilt, eine gesunde Balance zwischen Anpassung und Abgrenzung zu finden. Grundsätzliche Offenheit für Neues ist eine hilfreiche Grundhaltung. Die Fähigkeit auf andere Menschen zuzugehen, ermöglicht Kontakte mit der neuen Kultur und ein gegenseitiges Kennenlernen. Das kann auch helfen, Vorurteile abzubauen und neue Verhaltensweisen zu integrieren. Gleichzeitig kann durch das Erfahren von Akzeptanz und Zugehörigkeit ein überangepasstes Verhalten mit einseitiger Leistungsorientierung verringert werden. Wichtig ist, eigene Werte und Normen nicht zu ignorieren. Neben dem Aufbau von Kontakten innerhalb des Arbeitskontexts empfiehlt es sich auch, private Beziehungen zu pflegen. So kann beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Sport-, Musik- oder Kunstverein helfen, ungezwungen mit Menschen in Kontakt zu treten.
Neben all diesen Massnahmen ist es wichtig, sich selbst nicht zu vernachlässigen. Deshalb sind regenerierende Aktivitäten und ausreichende Erholung ebenfalls bedeutsam, um das Stresssystem zu entlasten. Das Einleben in eine andere Kultur kann auch als Gelegenheit begriffen werden, eigene Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen –, vor allem dann, wenn sie sich in der aktuellen Lebenssituation eher als hinderlich erweisen. Bei gravierenden psychischen Beschwerden ist eine professionelle Psychotherapie ratsam, bei der die konkreten Bedingungen der Migration und kulturelle Differenzen angemessen berücksichtigt werden.
Neu: Stationäres Therapieprogramm in Englisch
Ab August 2024 bietet das Sanatorium Kilchberg die stationäre Behandlung von stressbedingten Erkrankungen auch auf Englisch an. Die Klinik ist führend in der Therapie von Burnout und Erschöpfungsdepressionen.
Sanatorium Kilchberg
Alte Landstrasse 70
8802 Kilchberg
Tel. 044 716 42 42
www.sanatorium-kilchberg.ch
Bei uns beklagt man sich nicht
Herr L. lebt als Expat in der Schweiz. Tobias Ballweg, Leitender Psychologe, spricht mit ihm über seine psychische Erkrankung und die Behandlung im Sanatorium Kilchberg.
Herr L., Sie sind aufgrund einer Depression im Sanatorium Kilchberg in Behandlung. Können Sie uns etwas über die Ursachen sagen?
Die Herausforderungen im Job haben meine Kapazitäten überstiegen. Ich wusste schon lange, dass die Arbeitsbedingungen nicht stimmen und ich chronisch überlastet bin. Mir war es jedoch nicht möglich, mich zu äussern und um Unterstützung zu bitten.
Warum ist Ihnen das so schwergefallen?
Ein solches Verhalten ist mir fremd. Bei uns in Indonesien gehört es sich nicht, sich über die Arbeit zu beklagen. Ich hatte Angst, dass ich dadurch zu einem Problem für meinen Vorgesetzten werde und mein gutes Verhältnis zu ihm gefährde.
Sie wollten auf keinen Fall, dass er sich von Ihnen distanziert.
Offengestanden hatte ich Angst, dass er mich fallen lässt, wenn ich Schwäche zeige.
Haben Sie solche Erfahrungen schon gemacht?
Als es mir immer schlechter ging und ich fast zusammengebrochen bin, hat mein Chef natürlich gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Damals habe ich jedes Wort, jede Geste von ihm als Signal gedeutet und häufiger gedacht: Jetzt lässt er mich fallen.
Sie haben sein Verhalten durch die Brille der Angst gelesen und dann auch Hinweise gefunden, die ihre Befürchtung bestätigen.
Das ist mir erst während meiner Behandlung im Sanatorium bewusst geworden, wie empfindlich ich für Signale von Ablehnung bin, vor allem wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde.
Was hat Ihnen in der Behandlung am meisten geholfen?
Am Anfang waren es eher die einfachen Dinge, wie zum Beispiel beim Yoga meinen Körper wieder zu spüren oder zu lernen, wie ich mich mit Biofeedback entspannen kann.
Sie haben hier auch zum ersten Mal Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht. Wie haben Sie die erlebt?
Ich glaube, ich verstehe mich jetzt sehr viel besser. Ich habe erkannt, welche Rolle die Scham in meinem Leben spielt und wie sehr sie mich blockiert. In Gesprächen mit anderen PatientInnen wurde mir klar, dass ich nicht der Einzige bin, der seine Schwächen verbergen will und sich dadurch permanent überfordert. Das hat mir geholfen, meine Maske abzulegen und mich zu öffnen. Ich glaube, ich kann mich jetzt besser akzeptieren und auch mehr um mich selbst kümmern. Und wenn es erforderlich ist, kann ich auch andere um Hilfe bitten. Ich glaube, das geht jetzt.
Stehen Sie wieder in Kontakt mit Ihrem Vorgesetzten?
Das war für mich das grösste Problem, diesen Kontakt wieder aufzunehmen. Aber ein Gespräch mit dem Arbeitgeber gehört ja hier zum Therapieprogramm. Als ich das gehört habe, wäre ich am liebsten wieder ausgetreten (lacht). Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Aber das Gespräch wurde gut vorbereitet und meine Therapeutin hat mich sehr unterstützt.
Wie hat denn Ihr Chef reagiert?
Vielleicht war das die wichtigste Erfahrung während meines Aufenthalts: Er war sehr verständnisvoll. Als er hier in den Raum reinkam, hat er mich umarmt.
Er hat Ihnen gleich zu Beginn das Signal gegeben: «Zwischen uns beiden ist alles in Ordnung.»
Das hat mich sehr berührt und mir geholfen, über mein Problem zu sprechen.
Werden Sie an ihren bisherigen Arbeitsplatz zurückkehren?
Ja. Und ich freue mich sehr darauf. Wir konnten hier gemeinsam einen Einstiegsplan besprechen und auch mein Jobprofil anschauen. Einige Aufgaben kann ich abgeben.
Herr L., danke für das Gespräch und Ihre Offenheit. Ich wünsche Ihnen beruflich und auch privat alles Gute.