Ein Drink. Nicht mehr, nicht weniger. Das sind meistens ein paar Zentiliter Alkohol, gemischt mit Sprudelwasser oder einem Süssgetränk. Manchmal wird das Ganze mit einem Blatt Pfefferminze dekoriert. Man trinkt es, fertig. Für Marlene Keller war das eine Zeit lang unmöglich, ja sogar mit der Angst zu ersticken verbunden. Denn genau an so einem Drink hat sie sich als Teenagerin verschluckt. «Bis mir die Flüssigkeit aus der Nase kam. Ich schwitzte, und mir wurde schwindelig. Ich wollte nur noch aus der Bar flüchten, weil ich mich so schämte. Das war meine allererste Panikattacke», erzählt die heute 45-Jährige.
Die innere Unruhe wurde immer grösser
Damals war Marlene Keller 17 Jahre alt und in der Handelsschule. «Ich war sehr perfektionistisch und hatte hohe Anforderungen an mich selbst.» Sie bemerkte, dass die innere Unruhe immer grösser wurde. Bei der einen Attacke in der Bar blieb es nicht. Im Kino verschluckte sie sich am Popcorn und musste so stark husten, dass sie Angst hatte, alle anderen Gäste würden sie anstarren. Auch die Menge an Leuten beunruhigte sie. Vor allem in geschlossenen Räumen.
Nur die Eltern wussten von den Panikattacken
Marlene Keller erzählte anfangs niemandem von ihrem Problem, ausser ihren Eltern. Sie mussten einmal sogar die Ambulanz kommen lassen, weil eine Panikattacke so heftig war, dass sie nicht mehr weiterwussten. In der Schule konnte Marlene Keller ihre Panikattacken lange verstecken, bis zur Klassenfahrt im Car nach Barcelona. «Bei dieser Attacke merkte ich, dass ich Hilfe brauche.» Sie vereinbarte einen Termin, sprach mit dem Psychiater und liess es dabeibleiben. «Damals waren psychische Probleme ein Tabu. Was eine richtige Therapie ist, wusste ich nicht. Nach dem Gespräch dachte ich, dass ich jetzt einfach damit leben muss.»
Der Jobwechsel brachte keine Besserung
Lange passierten die Panikattacken nur in der Freizeit. Als Marlene Keller den Job wechselt und als Yogalehrerin und Fitnessinstruktorin arbeitet, wird ihr auch mitten im Gespräch mit Kunden schwindelig. Und zwar so stark, dass sie das Gefühl hat, in Ohnmacht zu fallen. «Ab diesem Zeitpunkt konnte ich meine Angststörung nicht mehr ignorieren oder selber heilen. Und obwohl ich eigentlich keine Medikamente nehmen wollte, habe ich mich damit befasst und mich zur Therapie angemeldet.»
Der geschützte Arbeitsplatz gibt ihr Sicherheit
Es folgen erneute Klinikaufenthalte und Suizidgedanken. «Ich war wirklich am Nullpunkt. Zum Glück schaffte ich es immer genug früh zu kommunizieren, wenn es mir so schlecht ging, dass ich nicht mehr leben wollte», erzählt sie. Nach zwei weiteren Klinikaufenthalten und erneuter Medikation fühlt sie sich endlich wieder besser.
Dank den angstlösenden Antidepressiva bekommt Marlene Keller ihre Panikattacken in den Griff. Sie kann wieder arbeiten, übernimmt sogar das Fitnessstudio. Sie fühlt sich voller Energie und beginnt unter ärztlicher Aufsicht, die Medikamente langsam wieder abzusetzen. Dabei merkt sie nicht, dass sich eine Erschöpfungsdepression anbahnt. Irgendwann geht nichts mehr. Es bleibt ihr nur der stationäre Klinikaufenthalt. Ihren Job muss sie aufgeben, es folgen Existenzängste. Sie fragt sich: «Wie geht mein Leben weiter? Kann ich jemals wieder irgendwo arbeiten? Kann ich ausserhalb der Klinik überhaupt funktionieren?»
Der Wiedereinstieg im ersten Arbeitsmarkt ist schwierig. Dafür findet Marlene Keller vor fünf Jahren eine integrative Stelle bei traversa, einem Netzwerk für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Dort arbeitet sie an einem geschützten Ort, und alle wissen von ihren gesundheitlichen Einschränkungen. «Wenn ich mich sicher fühle, kann ich meine volle Leistung erbringen.» Zusätzlich begleitet sie als Peer-Fachperson bei der Organisation IG Arbeit Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen bei einer möglichen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Meditation und Atemübungen beruhigen sie
In der Freizeit amtet Marlene Keller ehrenamtlich als Geschäftsführerin im Verein Angst- und Panikhilfe Schweiz. «Wer einmal bei unserer Hotline Anrufe entgegengenommen hat, weiss, dass es unzählige Ängste gibt. Viele fürchten sich vor grossen Menschenmassen oder Spinnen, manche ängstigen sich aber auch vor Knopflöchern oder der Zahl 13. Ich zum Beispiel hatte plötzlich wieder Mühe mit dem Schlucken von Flüssigkeiten. Dank einer einjährigen ganzheitlichen Logopädie gelingt es mir, wieder in einem Café etwas zu trinken.»
Lange getraute sich Marlene Keller auch nicht mehr ins Flugzeug zu steigen, weil sie sich eingesperrt fühlte. Dieses Jahr klappte das ganz ohne Notfallmedikamente. Sie schaffte es – dank Atemübungen und Meditation – sich zu beruhigen und konnte auch die Ferien in Norwegen geniessen. «Vor ein paar Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen. Deshalb geniesse ich solche Momente umso mehr.»
Brauchen Sie Hilfe?
Der Verein Angst- und Panikhilfe Schweiz aphs wurde von Betroffenen gegründet und unterstützt Personen, die unter Angststörungen leiden. Er bietet Hilfe und Beratung, vielfältige Informationen und die Möglichkeit zum Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten. Der Verein aphs ist erreichbar unter der Hotline 0848 801 109. Auch Anfragen per E-Mail an [email protected] werden beantwortet.
Alle weiteren Infos gibt es auf www.aphs.ch.