Heilpädagoge Walter Egli über Gelassenheit, Vertrauen und Respekt.
Erziehung ist keine Einbahnstrasse. Sie erträgt immer wieder auch Fehler. Wichtig sind eine wohlwollende Grundhaltung und der grosse Erziehungsbogen, der stimmig sein muss. Finden Sie Ihren ganz persönlichen Weg, bleiben Sie sich selbst. Seien Sie offen und flexibel, sodass Sie sich im erzieherischen Kontakt mit den Kindern auch immer ein wenig selber mitverändern lassen.
Ich wehre mich dagegen, wenn von schwierigen Kindern gesprochen wird. Das ist so endgültig. Ich spreche lieber von Kindern mit schwierigem Verhalten. Alle Formen von schwierigem Verhalten sind bei uns allen in anderer Dosierung oder wenigstens als Anlage vorhanden. Diese Erkenntnis ermöglicht ein einfühlendes Verstehen.
Jedem Kind – habe es eine noch so schwere Behinderung oder Störung – muss ich als Mensch begegnen. Ich muss es kennenlernen und versuchen, auf seine Besonderheiten einzugehen. In meiner langen Tätigkeit ist mir noch keines begegnet, das nicht positiv auf eine respektvolle, einfühlsame und aufbauende Haltung reagiert hätte.
Oft sind die Ursachen von schwierigem Verhalten in der Familie auszumachen. Dennoch bin ich nicht so schnell bereit, über den Familien den Stab zu brechen. Ich habe selber Kinder aufgezogen und weiss, welche Gratwanderung wir Eltern eingehen. Bewährt hat sich ein respektvoller, partnerschaftlicher Umgang mit den Eltern. Wenn dieser Weg nicht überheblich und möglichst einfühlsam gegangen wird, akzeptieren die meisten Eltern auch klare Worte und Abmachungen.
Erziehung erträgt weder Lieblosigkeit noch Gewalt
Wichtig ist, dass die Kinder in dieser bestimmten Umgebung unter den hier gegebenen Umständen ein auffälliges Verhalten zeigen. Einige Schulkinder würden vielleicht in einer anderen Umgebung überhaupt nicht anecken. In der Schule mit ihren vielen Regeln hebt es ihnen den Deckel, sie werden unruhig, passiv oder bekommen Kopfweh. Manches Verhalten, das wir auffällig nennen, ist in anderem Zusammenhang geduldet oder sogar erwünscht.
Bestimmte Haltungen von Eltern und Lehrern können schwieriges Verhalten auslösen oder begünstigen. Erziehung erträgt einiges an Fehlern und Fehlhaltungen. Nur eines erträgt sie nicht: Lieblosigkeit, Zynismus und Gewalt. Oft sind die drei Haltungen Zeichen von Verbitterung, Verzweiflung und Burnout. Wenn wir an uns solche Tendenzen feststellen, müssen wir Hilfe organisieren.
Eine weitere Haltung, die das Verhalten der Kinder ungünstig beeinflusst, ist Inkonsequenz. Es geht auch mir so, dass ich manchmal bei einem unerwünschten Verhalten eines Kindes Gnade vor Recht walten lasse und eine angekündigte Massnahme nicht durchführe. Früher oder später lässt es sich aber nicht verhindern, dass ich reagiere, sonst glauben mir die Kinder meine Ankündigungen nicht mehr. Im Umgang mit meinen Kindern habe ich übrigens die magische Wirkung des Bis-drei-Zählens kennengelernt, um ein bestimmtes Verhalten einzufordern.
Behutsames Vorgehen schliesst Konsequenz nicht aus. Verstehen heisst nicht einfach Verzeihen und nochmals Verzeihen. Schrauben Sie die Erwartungen nicht zu hoch, aber verzichten Sie dennoch nicht gänzlich auf Forderungen.
Erziehung heisst, sich auf eine Beziehung einzulassen
Die Erziehung eines Kindes beginnt damit, sich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen; als Erziehender mit der nötigen Distanz und der Bewusstheit des bestehenden Machtgefälles, aber auch schlicht als Mensch. Wie baut man eine Beziehung zu einem Kind auf, das einem schon mit einem schlechten Ruf angekündigt wird? In einem ersten Schritt erkläre ich mich bereit, mich auf eine Beziehung einzulassen und seine Geschichte für diesen Prozess beiseite zu stellen. Ich beginne das Kind kennenzulernen – eigentlich nicht viel anders, als wenn mir ein Mensch besonders gut gefällt. Ich schaue das Kind erst einmal richtig an und lasse seine Persönlichkeit, ohne zu werten, auf mich wirken. Ich versuche, möglichst viel darüber zu erfahren, was es bewegt, woran es Freude hat, womit es spielt, was es besonders gut kann, auch welche Fernsehsendungen es gerne sieht und mit welchen Helden es sich identifiziert.
Wenn es mir wirklich ernst ist, mit dem Kind eine Beziehung aufzubauen, muss ich auch bereit sein, mich selbst zu öffnen und die Kinder daran teilhaben zu lassen, was mich bewegt. Das Kind muss sich meiner Zuneigung sicher sein. Es muss wissen oder spüren: «Ich kann mich benehmen, wie ich will, wir können Streit haben deswegen, Massnahmen gemeinsam durchstehen und vielleicht sogar Tränen darüber vergiessen. Ich werde es aber niemals schaffen, dass der Lehrer mich nicht mehr mag.»
Erziehung heisst auch Sühne und Versöhnung
Gelegenheit zur Sühne: Dieser Punkt klingt vielleicht altmodisch. Es ist aber schon so, dass die Kinder sehr wohl wissen, was sie dürfen und was nicht. Die Kinder brauchen auch wieder einmal einen reinen Tisch. Es ist für sie sehr belastend, wenn ich zwar keine Massnahme ausspreche, aber jeden Tag wieder auf die Missetat zurückkomme und sie anprangere. Für gravierende Taten haben sich bei mir Arbeitseinsätze bewährt. Ich begleite das Kind und arbeite mit ihm zusammen. So kann ich genau sehen, ob die Massnahme ihre Wirkung hat und ich dem Kind im Sinne eines mündlichen Vertrags ein Versprechen abringen kann. Ausserdem hat das Mitarbeiten etwas mit Respekt zu tun: Ich missbrauche es nicht als Arbeitstier, sondern bin bereit, die Sache mit ihm durchzustehen.
Einige der Kinder mit schwierigem Verhalten sind häufig verstimmt. Ich versuche jeweils mit meiner Stimmung einen Gegenpol zu schaffen. Es beginnt schon am frühen Morgen. Wichtig ist oft, in welcher Stimmung ich selbst das Zimmer betrete. Ich begrüsse die Kinder immer bewusst mit einem freundlichen, beschwingten «Guete Morge!».
Manchmal eignen sich auch bei besonders auffälligen Kindern besinnliche Augenblicke, um etwas zu bewegen. Johny war auch so ein happiges und überaus skurriles ADHS-Kind, das mir sehr viel Geduld und Flexibilität abverlangt hat. Als sich sein Verhalten einmal ein wenig verbessert hatte, nutzte ich die Adventszeit und sagte ihm im Kerzenschein, dass ich deswegen sehr stolz auf ihn sei. Johny kullerten darauf zwei Tränen über die Backen. Wir haben danach noch viel Kummer zusammen aushalten müssen, jedoch dieser kleine Moment hat unsere Freundschaft besiegelt.