Es ging nichts mehr

Frau mit Long Covid sitzt im Wohnzimmer

Kurz vor Weihnachten im Jahr 2022 ging plötzlich gar nichts mehr. Milena war mit ihren zwei kleinen Töchtern in der Stadt unterwegs und wusste nicht, wie sie den 20-minütigen Heimweg schaffen sollte. «Ich war so schwach, dass ich fast nicht mehr laufen konnte», erzählt sie. «Es hat sich angefühlt, als wäre ich 100 Jahre alt.» Ab diesem Moment hat sich der Alltag ihrer Familie drastisch geändert. Sie konnte nicht mehr arbeiten, brauchte Hilfe bei der Kinderbetreuung und kämpfte gegen die allbestimmende Erschöpfung an.

Vergesslichkeit und Konzentrationsmängel

Milena nahm an, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit ihre kürzliche Corona-Infektion der Grund war. Sie und ihr Mann erkrankten Ende November 2022 daran. Ihm ging es nach zwei Wochen wieder gut, sie erholte sich einfach nicht. Die Hausärztin riet ihr, sich zu schonen. «Aber wie soll das mit zwei kleinen Kindern gehen?», sagt Milena. «Und vor allem ist man sich von früheren grippeähnlichen Erkrankungen gewohnt, dass es gut ist, wenn man sich bewegt und sich auch etwas pusht.» Dass das nicht funktionierte, merkte die Deutschlehrerin aber schnell. «Ich konnte meinen Kindern nicht mal mehr ein ‹Büechli› vorlesen. Es gelang mir nicht, die geschriebenen Wörter laut auszusprechen. Das war ein derartiger Stress für mein Gehirn und meinen Körper, dass ich kaum mehr atmen konnte. Zudem wurde ich vergesslich und konnte mich kaum mehr konzentrieren.»

Ein halbes Jahr nur im Bett

Arbeiten ging nicht mehr. Einkaufen ging nicht mehr. Auf die Kinder aufpassen ging nicht mehr. Milena und ihr Mann waren auf Hilfe angewiesen und engagierten eine Kinderbetreuung vom Roten Kreuz. «Fast ein halbes Jahr lang lag ich einfach nur im Bett. Alles, was normalerweise helfen würde, verschlimmerte meinen Zustand nur; nach draussen gehen, aus dem Fenster schauen oder Musik hören. Ich war zu dieser Zeit so lärmempfindlich, dass ich seither immer einen Hörschutz trage.» Das Einzige, was geholfen hat, war Schlaf. Zudem versuchte sie im Liegen mit Yoga Nidra das Nervensystem zu beruhigen.

Bei einer weiteren Untersuchung stellte die Hausärztin die Diagnose Long Covid und meldete ihre Patientin bei einer spezia­lisierten Sprechstunde an. Milena wartete sieben Monate auf einen Termin. «Dort riet man mir, Physiotherapie zu machen und mich täglich zu steigern. Aber genau das verschlimmerte meinen Zustand jeweils drastisch, weil ich unter einer Belastungsintoleranz leide. Wenn ich mich anstrenge, verschlechtert sich mein Zustand. Medikamente wurden keine verschrieben, weil bis jetzt keine offiziell zugelassen sind.»

Die meisten Infos müssen sich Long-Covid-Betroffene selber zusammensuchen. Dank der Organisation Long Covid Schweiz findet Milena Menschen, die genau das Gleiche durchmachen wie sie. Die Mitglieder tauschen sich über Therapien und neuste Studien aus. «Es gibt Medikamente, die bei Long-Covid-Symptomen helfen. Weil sie aber für andere Krankheiten zugelassen sind, müssen wir sie Off-Label einnehmen. So zum Beispiel auch das Antihistamin, das fast alle Betroffenen nehmen, die ich kenne. Es reduziert bei vielen den Brain-Fog. Mir hilft es, dass ich mich wieder besser konzentrieren kann.»

Ich nehme jeden Tag, wie er kommt

Seit vier Monaten nimmt Milena niedrig dosiertes Naltrexon ein. Ein Wirkstoff aus der Gruppe der Opioid-Antagonisten, der für die Entwöhnung bei Alkohol- oder Opiat­abhängigkeit zugelassen ist und oft auch bei Fibromyalgie eingesetzt wird. «Seither geht es mir viel besser. Ein Interview zu führen, wäre vor zwei Monaten nur mit sehr grosser Anstrengung möglich gewesen. Ein Patentrezept gibt es aber leider nicht. Alle Betroffenen müssen selber herausfinden, was ihnen hilft. Deshalb brauchen wir Unterstützung und bessere Anlaufstellen. Denn auch wenn es kein ursächliches Medikament gibt. Gegen die verschiedenen Symptome gibt es durchaus Wirkstoffe», sagt Milena. Dass man nichts machen könne, weil man noch zu wenig wisse, lässt sie nicht gelten. «Postvirale Erkrankungen kennt man in der Medizin schon sehr lange. Nur kümmert es die wenigsten.» Von ihrem Umfeld hingegen wurde Milena stets getragen. «So viele Menschen haben mir ihre Hilfe angeboten und Verständnis entgegengebracht, dafür bin ich sehr dankbar. Zum Glück geht es mir besser, wenn auch nur sehr sehr langsam. Ich nehme jeden Tag so, wie er kommt. Erzwingen bringt nichts, das lehrt einen Long Covid schnell.»

Die häufigsten Symptome

  • Erschöpfung
  • Kopfschmerzen
  • Aufmerksamkeitsstörung
  • Haarausfall
  • Atemnot
  • Geschmacksverlust
  • Kein Geruchssinn
  • Erhöhte Atemfrequenz
  • Gelenkschmerzen
  • Husten

Was ist ME/CFS?

Das Chronische Fatigue Syndrom ME/CFS ist eine schwere, komplexe, chronische Erkrankung, die zu langanhaltender Erschöpfung führt. Sie tritt typischerweise nach Infektionserkrankungen auf. Die Belastungsintoleranz ist eines der wichtigsten Symptome. Etwa die Hälfte aller Long-COVID-Patientinnen und -Patienten erfüllt nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer die Diagnosekriterien für ME/CFS.