Es wird viel zu viel geschieden

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Ist die Ehe wirklich am Ende, wie es die ständig steigende Zahl von Scheidungen nahelegt?

Nein, absolut nicht. Umfragen zeigen, dass sich die meisten Menschen nach einem stabilen Zusammensein mit einem Menschen sehnen, den sie lieben können und für den sie die wichtigste Bezugsperson im Leben sind. Die meisten verliebten Paare haben irgendwann den Wunsch, sich längerfristig zu binden, und möchten dies mit einem öffentlichen Treueschwur zur gemeinsamen Liebe ausdrücken.

Und wie sieht die Wirklichkeit aus?

Das Verfalldatum von Beziehungen wird immer kürzer. Wenn nur etwas für einen oder beide Partner nicht mehr stimmt, schmeisst man augenblicklich den Bettel hin, löst die Beziehung möglichst schmerzlos auf und geht innerhalb von vierzehn Tagen schon wieder die nächste Beziehung ein. Diese serielle Monogamie oder diese Kurzzeitpartnerschaften haben zwei grosse Haken: Die Partner vergeben sich jede Chance auf eine Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit und ihrer Beziehung, und – das wiegt noch viel schwerer – am meisten leiden die Kinder, wenn welche da sind. Kinder brauchen eine gute Beziehung zu Vater und Mutter, und zwar unter ein und demselben Dach. Das ist meine klare Erfahrung als Familien- und Paartherapeut. Wenn es kriselt, ist es wichtig, genau hinzuschauen und frühzeitig den Fachmann beizuziehen. Häufig sind es die Frauen, die den Vorschlag für eine Paartherapie machen. Männer denken meist, das Problem löse sich von alleine, und sind dann erstaunt, wenn die Ehefrau bereits den Anwalt konsultiert hat, nachdem er sich jahrelang geweigert hat, mit auf die Eheberatung zu kommen.

Dann wird heute zu früh geschieden?

Auf jeden Fall. Da wollen sich zwei Menschen aufrichtig lieben und das Leben teilen. Kommen die ersten Schwierigkeiten, wird plötzlich alles fallengelassen, was einem bis anhin wichtig und lieb war, und nicht gefragt, wie viel Veränderungspotential überhaupt da ist und welche Chancen sich durch die Krise eröffnen. Es ist naiv zu glauben, die Ehe funktioniere ohne eigenes Zutun einfach so über Jahre hinaus. Es ist wie mit einem Paar im Ruderboot auf dem Mississippi. Um den Fluss zu überqueren, müssen immer beide Partner beständig rudern. Sobald auch nur einer aufhört, geht das Eheboot fluss- oder eben bachabwärts.

Welchen Einfluss hat die Konsum- und Spassgesellschaft auf die Institution Ehe?

Man handhabt die Ehe wie ein materielles Konsumgut. Funktioniert etwas nicht mehr, wird entsorgt. Wie bei einem Computer, den man alle zwei bis drei Jahre erneuert. Man schaut gar nicht mehr, ob etwas repariert werden kann. Im besten Fall geht man als gute Freunde auseinander. Von einer Partnerschaft erwartet man permanentes Glück und vor allem Spass. Heute muss ja ohnehin alles Spass machen. Konflikte haben da nichts zu suchen. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Wer solche Erwartungen an eine Partnerschaft oder eine Ehe hat, muss scheitern.

Weshalb?

Sobald man es mit Menschen zu tun hat, gibt es Konflikte. Das lässt sich nicht vermeiden. Eine Paarbeziehung ist definitionsgemäss keine konfliktfreie Zone, im Gegenteil. Partnerschaft kann man nicht einfach konsumieren. Partnerschaft muss man aktiv gestalten. Wer eine Beziehung bei der kleinsten Schwierigkeit beendet, vergibt sich die Chance, sich durch die Krise hindurch auf eine neue Art lieben zu lernen. Die ewige Verliebtheit gibt es nicht!

Können Sie das genauer erklären?

Was heisst denn verliebt sein? Das ist nichts anderes, als sich gegenseitig zu idealisieren und zu vergöttern. Je besser sich ein Paar nach der ersten Verliebtheit kennenlernt, desto mehr kommen die Schattenseiten zum Vorschein und desto mehr nähern sich die Idealvorstellungen der Realität. Wer es nicht schafft, dieser Realität ins Auge zu sehen, bricht die Beziehung ab, weil er masslos enttäuscht ist.

Bedeutet das, dass sich in einer langjährigen Beziehung automatisch die grosse Ernüchterung breitmacht?

Nein. Auch in einer langjährigen Beziehung ist Verliebtheit möglich und wünschenswert. Wenn ein Partner den anderen überhaupt nicht toll findet, wird es schwierig, eine Beziehung am Leben zu erhalten. Eine gewisse Idealisierung braucht es. Aber sie basiert auf einer realen Grundlage. Das Geheimnis einer funktionierten Partnerschaft besteht unter anderem darin, die Verliebtheit am Anfang der Beziehung wie eine Art Anker für Krisenzeiten zu bewahren, auf den man setzen kann, wenn es mal schlecht geht, und diese Verliebtheit in eine wahre Liebe überzuführen, die als Glück und vertraute Geborgenheit wahrgenommen wird. Doch dieser Zustand kommt nicht von alleine. Dazu braucht es zwei Menschen, die immer wieder bereit sind, Holz auf das gemeinsame Liebesfeuer zu legen.

Gibt es noch andere Rezepte für eine gute, langjährige Partnerschaft?

Wichtig ist, dass man den Ausgleich sucht zwischen Nähe und Distanz. Ist zu viel Nähe da, kommt es oft zum Streit. Gehen beide auf zu viel Distanz, entfremdet man sich. Dann hat sich gezeigt, dass Paare, die ähnliche Werte im Leben haben, länger zusammenhalten. Dasselbe gilt für die Eigenständigkeit und Autonomie. Wer eigene Freundschaften weiterpflegt und nicht symbiotisch vom Partner abhängt, hat bessere Chancen auf eine gute, bleibende Partnerschaft. 80 Prozent der Männer haben nach vier Ehejahren keine eigenen Freunde mehr. Weiter braucht es in jeder Beziehung ein ausgeglichenes Wechselspiel von Geben und Nehmen. Meistens besteht jedoch ein Ungleichgewicht. Frauen beispielsweise beklagen sich, sie müssten den ganzen Karren zu Hause alleine ziehen. Und die Männer jammern, sie müssten in Sachen Sex immer die Initiative übernehmen. Über solche Dinge muss man reden, sie miteinander verhandeln und kooperieren. Entscheidend für das Zusammenleben sind auch ganz praktische Dinge: Wie schafft es ein Paar, sich im Alltag zu organisieren? Ist das jedes Mal ein Drama, oder geht das locker vom Hocker? Weitere Punkte: Sieht man immer nur das Negative und nicht das Positive? Hat ein Paar die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und sich für den anderen zu interessieren? Haben die zwei gemeinsame Perspektiven und Visionen, ein gemeinsames Drittes, wie wir sagen?

Was meinen Sie damit?

Irgendwann reicht die Symbiose der beiden Partner nicht mehr. Da braucht es etwas anderes, Neues, das die beiden verbindet. Bei vielen ist das gemeinsame Dritte ein Kind. Bei anderen ein Hobby, ein Haus. Achtung: Wenn es gebaut ist, muss man dieses gemeinsame Dritte dann schon wieder neu definieren. Vielleicht sind es dann eben die Enkelkinder.

Kommen wir nochmals zurück auf die vielen gescheiterten Ehen. Gibt es noch andere Gründe als Konsumhaltung und übersteigerte Erwartungen?

Ein weiterer Hauptgrund aus meiner Sicht ist der: Viele Paare definieren die Kindererziehung als absoluten Lebensmittelpunkt, sobald sie Eltern werden. Die Kinder sind dann der Lebensinhalt. Mit der Konsequenz, dass die Liebesbeziehung zum Partner schleichend vernachlässigt wird. Ich sage deshalb immer: Die Paarbeziehung kommt vor der Elternbeziehung! Nur sehr wenig Kinder erleiden psychischen Schaden, wenn es die Eltern zusammen gut haben. Eltern brauchen regelmässige Paarinseln. Ich meine damit regelmässige Paargespräche von rund einer Viertelstunde Dauer, damit sich beide ungestört austauschen können. Es ist das Grundprinzip der Selbstoffenbarung: Wie geht es dir? Wie geht es mir? Jeder hat ein Zeitfenster von sechs Minuten, um zu erzählen, was ihn an diesem Tag gerade beschäftigt hat. Der andere hört aufmerksam zu und – das ist sehr wichtig – fasst kurz zusammen, was er gehört hat. In der Kommunikation deckt sich das, was einer sagt, und das, was der andere versteht, nur zu zirka 14 Prozent. Das ist sehr wenig. Wenn man weiss, dass das durchschnittliche Schweizer Ehepaar lediglich sieben Minuten am Tag miteinander spricht, muss man sich nicht wundern, dass sich die Paare auseinander leben.

Ist es wirklich notwendig, Gespräche mit der Stoppuhr zu führen?

Mit der Stoppuhr sicher nicht. Aber man muss sich die Zeit dazu wirklich nehmen. Mit «man» meine ich vor allem den Mann. Es sind vor allem die Männer, die kaum reden. Aus irgendeinem Grund haben sie das Gefühl, was sie erleben, sei für die Partnerin nicht interessant. Lieber verschliessen sie sich zu Hause. Auch der sogenannt neue Mann ist so sprachlos wie der alte. Wenn sie wüssten, dass es die Frauen enorm sexy finden, wenn sie endlich zu reden begännen, würden sie noch heute damit loslegen! Man kann abends zusammensitzen bei einem Glas Wein oder einer Tasse Tee. Nach Abschluss der Paarinsel kann jeder wieder seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen. Auf keinen Fall darf die Paarinsel zu einem täglichen Openend-Gefühlspalaver ausarten.

Welchen Einfluss hat die Geschichte auf die heute noch herrschenden romantischen Vorstellungen über die Ehe?

Die Vorstellung von der romantischen Ehe wird bereits früh geprägt. So wissen neunjährige Mädchen mit erstaunlicher Sicherheit, dass sie später einmal in einem weissen Kleid mit drei Meter langer Schleppe heiraten wollen. Für das romantische Liebeskonzept, von dem unsere Vorstellungen von Ehe stark geprägt wurden, sind im 18. Jahrhundert die Weichen gestellt worden. Über Jahrhunderte hinweg war die Familiengründung ein wirtschaftlicher Zweckverbund. Ökonomische Interessen waren für die Eheschliessung ausschlaggebend. Emotionale und sexuelle Harmonie der Ehepartner waren im Haushalt von mehreren Generationen und Bedienten unter einem Dach nicht von Wichtigkeit.

Was darf man heute realistischerweise von einer Ehe erwarten?

Während man zum Autofahren eine Fahrprüfung ablegen und vorher noch Kurse in erster Hilfe und Theorie bestehen muss, kann jeder ohne Vorkenntnisse eine Ehe eingehen und Kinder in die Welt setzen. In einem US-Staat hat man Heiratswilligen, die einen Ehevorbereitungskurs absolviert haben, die Gebühren für das Standesamt erlassen. Der Erfolg war durchschlagend. Die Scheidungsraten sind massiv zurückgegangen, auch weil einige Paare merkten, dass sie gar nicht zusammen passen, und sich beim Amt wieder abgemeldet haben. Wieso führen wir nicht bei uns etwas Ähnliches ein? Bereits vier Abendkurse würden vielen Paaren helfen, ihre Vorstellungen über die Ehe in ein anderes Licht zu rücken. Als Paartherapeut fällt mir auf, dass die Erwartungen von Mann und Frau an die Ehe sehr unterschiedlich sind. Durch die wachsende Individualisierung der Frau wird sie immer weniger jene Beziehungsmuster akzeptieren, die Generationen vorher praktizierten, nämlich die Anpassung an den Mann, unter Preisgabe der eigenen Erwartungen und Wünsche. Heute haben beide Partner ein Mitspracherecht und damit die Chance, eigene Rechte und Interessen einzubringen. Der Zeitgeist geht immer mehr in die Richtung, dass zwei Menschen mit ihren eigenen Erwartungen, Wünschen und Neigungen einen gemeinsamen Weg finden müssen, was wiederum mehr Anlass zu Uneinigkeit gibt und daher den Bedarf an Kommunikation und Verhandeln erhöht. In einer Beziehung braucht es ein Gleichgewicht von Einfluss nehmen und sich beeinflussen lassen. Wenn einer der Partner das Gefühl hat, seine Meinung sei gar nicht gefragt, führt das über kurz oder lang zu einem grossen Ungleichgewicht.

Wie geht man mit Verletzungen um?

Dass man sich in einer Beziehung hin und wieder verletzt, lässt sich nicht vermeiden. Wichtig ist, dass man lernt, Verletzungen wieder gutzumachen. Erster Punkt: Wer verletzt wurde, muss dies melden! Zweitens: Der, welcher verletzt hat, muss dies eingestehen und sich dafür entschuldigen. Drittens: Der Verletzte muss sich überlegen, wie der Verletzer das wieder gutmachen kann. Erst wenn er das geleistet hat, ist der Ausgleich wieder vorhanden. Dann kommt aber Punkt vier: Wenn der Ausgleich wieder hergestellt wurde, muss der, welcher verletzt wurde, seine Verletzung loslassen und nicht irgendwann wieder hervorholen. Die meisten Paare bringen alte Verletzungen mit, die nie angesprochen und wieder in Ordnung gebracht wurden. Das muss auf den Tisch und verhandelt werden.

Sie sprechen gerne von der Fairnessbilanz. Was meinen Sie damit?

In jeder Ehe kommt es von Zeit zu Zeit zu einem Ungleichgewicht von Geben und Nehmen. Derjenige, der das zuerst bemerkt, soll das in einer Art Fairnessbilanz ansprechen. Warum muss ich immer den Karton zusammenbinden und ihn entsorgen? Weshalb muss ich immer deine Mutter im Altersheim besuchen? Wieso organisierst nicht du die Ferien oder übernimmst mal den Elternabend? Warum muss ich immer derjenige sein, der beim Sex anfangen muss? An der Fairnessbilanz werden genau diese eingefahrenen Rollenbilder neu verteilt. Das belebt die Liebe ungemein.

Wie ist es möglich, in einer sexuell enthemmten Gesellschaft einem Partner zeitlebens treu zu sein?

Am treusten sind Paare, die ihre Partnerschaft als glücklich beschreiben und wenig Gelegenheit haben, Menschen des anderen Geschlechts kennenzulernen. Sexualität lebt von zwei sich widersprechenden Aspekten. Einerseits von Vertrauen und Vertrautem und andererseits vom Kick des Neuen. Hier haben es Paare, denen es gelingt, ihre Sexualität immer wieder neu zu gestalten und Abwechslung hineinzubringen, leichter, sich treu zu sein. Noch etwas: Wir sollten endlich Abschied nehmen vom Mythos der spontanen Sexualität. Das geht in der heutigen Zeit mit der starken beruflichen Belastung der Partner kaum noch. Und schon gar nicht, wenn man Kinder hat. Befreien wir uns von diesem Mythos und planen wir mindestens einmal in der Woche einen Liebesabend oder von mir aus einen Liebesmorgen ein. Machen wir dabei genau ab, wer die Initiative ergreift und den Ablauf, die Musik, die Specialeffects usw. bestimmt. Ich sage bewusst Liebes- und nicht unbedingt Sexabend.

Henri Guttmann, Paartherapeut

www.henri-guttmann.ch