Gerüstet fürs Leben

Generationenhaus klein e1383898232591

Bewegungs- und Begegnungslandschaften, Lichttankstellen, gemein­sames Kochen, Essen, Gestalten und Malen sowie ein Talentforum und eine eigene Zeitung. Das Generationenhaus Neubad ist Altersheim und Kindertagesstätte zugleich.

Was ist das für ein Ort, wo die Menschen sagen, es sei ihnen im Leben noch nie so gut gegangen wie jetzt, sie hätten weniger Schmerzen und fühlten sich um Jahre jünger und schöner? Dieser Ort ist weder ein Alters- noch ein Pflegeheim noch eine Kindertagesstätte, sondern alles zusammen. Es ist das Generationenhaus Neubad in Basel, ein Haus für Alt und Jung unter dem gleichen Dach. 80 ältere Menschen leben hier, und ebenso viele Kinder teilen sich die 52 Plätze zur Tagesbetreuung. Dazu kommt ein Mittagstisch für weitere 30 Kinder. Der älteste Bewohner ist 105 Jahre, das jüngste Kind drei Monate alt.

Das Generationenhaus ist erfüllt von Bewegung. Die Menschen, die in ihm leben, bewegen sich. Die Bewegung verbindet Generationen, jeden Tag. Dabei geht es nicht nur um Muskelkraft und Gleichgewicht, sondern um das Miteinander, um das Verbindende. Die Begegnungen zwischen den Generationen finden gezielt durch gemeinsame Aktionen statt, wie auch ganz spontan. Dabei entsteht eine Fröhlichkeit, die sich im ganzen Haus ausbreitet. Das vermittelt Lebendigkeit und Lebensfreude. Für die Betagten ist es eine Gewissheit, dass es weitergeht, und für die Kinder eröffnen sich ganz neue Horizonte und Lebenssituationen. Sie sehen aber auch auf natürliche Art, dass trotz Einschränkungen Freude im Leben Platz hat.

Gret Martig ist 87-jährig. Die Kinder sind für sie das absolute Highlight. «So viel Leben, so viel Freude! Sie springen herum, auf dem Trampolin, auf der Matte, überall. Mit ihnen kommt niemand von uns Betagten auf die Idee, sich in eine Ecke zurückzuziehen und Trübsal zu blasen.» Selbst den Tod einer nahen Freundin hat Gret Martig gut überstanden. Hier werde man von allen getragen, von den Mitarbeitern und den Mitbewohnern und von den Kindern. Die tägliche Bewegung und regelmässige Lichttherapie haben dazu beigetragen, die dunklen Gedanken der Trauer zu verscheuchen. «Einen Psychiater braucht hier niemand. Den schenken wir uns alle. Mir geht es heute besser als damals mit fünfzig Jahren.»

Auch Miriam Blocher, 73, würde an keinen anderen Ort der Welt ziehen. «Ich war schon in vielen Heimen. Nirgends hatte ich es so gut wie hier. Das tägliche Miteinander bedeutet mir enorm viel.» Seit ihrer Kindheit habe sie es nie leicht gehabt, sei immer im Schatten ihrer Geschwister gestanden. Auch finanziell habe sie ständig zu kämpfen. Bis auf den heutigen Tag. Auch bei ihr hilft die Lichttherapie enorm, wenn sie sich niedergeschlagen fühlt. So müsse sie nicht noch mehr Tabletten nehmen.

Bernhard Brandenberg, 84, beschleichen immer im Herbst, wenn die Tage kürzer werden, depressive Gefühle und Todesahnungen. Als er in einer Zeitschrift einen Artikel über Winterdepression las, wusste er, was er hatte. Auch er schwört auf die Lichttherapie, die er in seinem Zimmer machen kann. «Heute habe ich keine Zeit mehr, niedergeschlagen zu sein. So einfach ist das.»

Eine gehörige Portion Bewegung, Lichttherapie und eine Stückchen Schokolade. So lautet im Generationenhaus Neubad das erfolgreiche Rezept gegen Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit im Herbst und im Winter. «Weil die trüben Tage in unseren Breitengraden in der Überzahl sind, legen wir besonderen Wert darauf, unseren Bewohnern ausreichend Lichtquellen anzubieten. Am einfachsten wäre es natürlich, aus dem Haus zu gehen», sagt Ulrike Breuer, diplomierte Kunsttherapeutin. «Die Realität in den Altersheimen zeigt meistens jedoch ein anderes Bild. So kann es vorkommen, dass die Bewohner oft wochenlang nicht aus dem Haus kommen. Aus diesem Grund bieten wir jeden Tag drei Lichttankstellen an. Unsere Bewohner sitzen zum Beispiel auf dem Trainingsvelo, geniessen gleichzeitig die Lichtdusche und auch noch ein kleines Stück Schokolade. Danach gehen wir gemeinsam an die frische Luft, auch wenn es draussen trüb und nass ist. Ich finde diese Lichttherapiegeräte genial. Stimmungsschwankungen und Müdigkeit sind wie weggeblasen.» Die Bewohner lieben dieses Angebot und sagen: «Chumm, mir gönd go sünnele», oder «Ab in d’Ferie, nimm gnueg Sunnecreme mit.»

Zurück zur Bewegung, besser gesagt zur Begegnungs- und Bewegungslandschaft. Ins Leben gerufen wurde sie von Felix Oettli, dem Leiter Bewegung und Gesundheit, sowie der Erzieherin und Heilpädagogin Mona Albrecht. Diese Landschaft ist heute ein alltäglicher und selbstverständlicher Treffpunkt für Alt und Jung. Am Morgen wird die Bewegungslandschaft aufgebaut, ein Part für die Bewohnerinnen und Bewohner, und ein Teil, in dem sich hauptsächlich die Kinder bewegen. Die Betagten kommen im Wechsel vorbei, üben sich im vielfältigen Gleichgewichts- und Krafttraining und der Kybunmatte und sehen danach oft noch den Kindern zu, die noch eine Stunde hochmotiviert verschiedene Bewegungsspiele machen. Am späten Vormittag wird die Bewegungslandschaft gemeinsam mit den Kindern wieder abgebaut. Das gesamte Training passt sich den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Bewohner an und nicht umgekehrt. Die Bewegungsmodule sind für alle eine neue Herausforderung. Grenzen und Ängste werden überwunden. Das Selbstbewusstsein wächst. Und vor allem macht das Ganze einen Riesenspass. Alle Module sind so gestaltet, dass jederzeit Alt und Jung gemeinsam daran teilnehmen können. Trainingseinheiten wie Gleichgewicht, Kraft, Ausdauer und Koordination stehen nicht als solche im Mittelpunkt, sondern sind nur der Schlüssel zu mehr Selbständigkeit und Lebensqualität. Das Training findet auch nicht in geschlossenen, separaten Räumen statt, sondern offen und direkt bei den Bewohnern vor Ort. In den Wohnbereichen sind sogenannte Gesundheitstankstellen in Form von Geräten installiert, die von allen 24 Stunden genutzt werden können, als Alternative zu einer Schlaftablette.

Muskeln sind die wichtigste Voraussetzung, um sich aufrecht zu halten, sich zu bewegen und das Gleichgewicht zu bewahren. Schon wenige Tage Inaktivität lässt die Muskeln schwächer werden. Da sich Altersheimbewohner in der Regel deutlich weniger bewegen, zeigt sich der Muskelschwund bald in Form von allgemeiner Schwäche, Kreislaufproblemen, Schwindel, Zittern, Müdigkeit, Übelkeit, Gelenkschmerzen, Stimmungsschwankungen sowie unsicherem Gang und Stürzen. Der Allgemeinzustand verschlechtert sich, die Selbständigkeit, das Selbstvertrauen und die Lebensqualität leiden. Diese Abwärtsspirale bis zur völligen Inaktivität ist der übliche Verlauf, wenn sich ältere Menschen nicht genügend bewegen. Nichts tun bedeutet langsam sterben. Sich bewegen ist gleichbedeutend mit Leben. Der Körper ist auch im hohen Alter erstaunlich anpassungsfähig und trainierbar. Die Muskeln reagieren sehr schnell auf einen Trainingsreiz, auch wenn jemand nie sportlich aktiv war. Da ältere Menschen ein tieferes Leistungsniveau als junge Menschen haben, stellt sich der Trainingserfolg sehr schnell ein. Im Generationenhaus Neubad legt man deshalb grossen Wert auf das Krafttraining.

Viele Bewohner sind am Anfang skeptisch, aber schon nach wenigen Trainingseinheiten begeistert, da sie in kurzer Zeit wieder deutlich mehr Kraft verspüren und ihnen der Alltag viel leichter fällt. Beim ersten Training konnte eine Bewohnerin an der Beinpresse nur 20 Kilo stemmen. Bereits nach vier Wochen waren 80 Kilo möglich. Die Bewohnerin weinte vor Freude und war unheimlich stolz auf ihre Leistung. Sie war verblüfft, dass sie die Treppen in die vierte Etage wieder selber gehen konnte. Dabei war die Unfähigkeit, Treppen zu steigen, der Grund, weshalb sie die eigene Wohnung verlassen musste.

Ausdauer ist die wichtigste Voraussetzung für Mobilität. Kraft kann man im Alter relativ schnell aufbauen. Ein Ausdauertraining fordert mehr Geduld, ist aber dringend nötig. Denn wem die Luft ausgeht, meidet grössere Wege und soziale Kontakte, was unweigerlich zu einer drastischen Abnahme der Lebensqualität führt. Mässig, aber regelmässig. Das ist das wichtigste Prinzip beim Ausdauertraining. Oberstes Ziel ist es deshalb, dass sich die Bewohner eine halbe Stunde pro Tag mit mittlerer Intensität bewegen. Eine sehr gute Möglichkeit ist zum Beispiel das begleitete Treppensteigen, das täglich durchgeführt wird.

Bewohner eines Altersheims sitzen und liegen deutlich mehr als sie laufen. Dadurch wird der Gleichgewichtssinn kaum noch gefordert, was die Sturzgefahr massiv erhöht. Aus diesem Grund wird im Generationenhaus von Montag bis Freitag ein begleitetes Geh-, Steh- und Gleichgewichtstraining angeboten. Damit ein optimaler Trainingseffekt entsteht, werden die Reize laufend gewechselt. So zum Beispiel rückwärts laufen, grosse und kleine Schritte machen, Hindernisse überwinden, mit geschlossenen Augen stehen, beide Arme in die Luft halten und so weiter. Resultat des Gleichgewichts- und Antisturzprogrammes ist eine Halbierung der Stürze innerhalb eines Jahres und eine Reduktion der Medikamente um einen Drittel. Ein wesentlicher Bestandteil des Programmes ist die regelmässige Einnahme von Vitamin D.

Wer sich im Generationenhaus Neubad umschaut und mit den Menschen spricht, versteht schnell, dass sie mit keinem anderen Ort tauschen möchten. Eine Generationen-Zeitung gibt es. Sie wird von den Bewohnern und den Kita-Kindern zusammen mit der Journalistin Carolin Frei einmal im Monat gemacht. An den Wänden fallen die wunderschönen Collagen in Plakatgrösse auf, welche die Kunsttherapeutin Ulrike Breuer zusammen mit den Bewohnern anfertigt. Seit fünf Jahren arbeitet sie im Generationenhaus. Ihr Angebot für Alt und Jung reicht vom meditativen Malen mit Mandalas über freies Malen und Gestaltungsarbeiten bis hin zur Dekoration für die Cafeteria und den Esssaal. Mit Papier wird genauso gearbeitet wie mit Ton oder Speckstein. Das Konzept Alt und Jung wird auch rund um das Essen umgesetzt. Einige Bewohner gehen regelmässig in die Kita zum Mittagessen. Einmal im Monat findet ein gemeinsames Kochen statt. Auch beim Rüsten gibt es ein fröhliches Miteinander.

Ein weiteres Modul der Bewegungs- und Gesundheitsförderung ist das Talentforum. «Die Bewohner, die Kinder und die Mitarbeiter haben enorm vielfältige, verborgene Fähigkeiten», sagt Felix Oettli. «Sie sollen nicht versteckt bleiben, sondern einen Ort finden, wo sie ausgelebt und weitergegeben werden können. Jeder kann etwas, das der andere weniger gut beherrscht. Das stärkt das Selbstvertrauen, Lebensgeister werden geweckt, das Leben bekommt wieder Farbe. Alles kann gezeigt werden, vom Bauchtanz über spanische Musik, Handörgeliklänge bis hin zu Verse erzählen.» Das Talentforum findet alle ein bis zwei Wochen statt.

Im Generationenhaus Neubad ist die Bewegung, welche Generationen von Menschen verbindet, mit den Händen zu greifen. Nur wer sich bewegt, begegnet den Menschen. Und nur wer den Menschen begegnet, nimmt am Leben teil. Und nur wer bis zuletzt bewusst am Leben teilnimmt, kann es dereinst auch wieder loslassen, wenn die Zeit dafür kommt.

www.generationenhaus-neubad.ch