Guten Flug zu den Sternen, liebster Till

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Vier Jahre lang kämpften Till und seine Familie gegen den Hirntumor. Mutter Kerstin Birkeland über die Zeit zwischen Hoffen und Bangen.

«Soll ich es Ihnen hier drinnen sagen oder lieber draussen vor der Tür?», fragte der Arzt, der uns an Weihnachten 2006 in der Notfallaufnahme des Kinderspitals Zürich die Diagnose Hirntumor bei unserem Sohn Till beibringen musste. Eigentlich weiss ich gar nicht mehr, ob es ein Arzt oder eine Ärztin war, weil ausser diesem Satz fast alles verschwommen in meiner Erinnerung ist. Auch weiss ich, im Gegensatz zu meinem Mann, nicht mehr, in welchem Zimmer uns diese Nachricht überbracht wurde, die unser Leben für immer in ein Leben davor und ein Leben danach teilte. Doch ich weiss, dass wir funktionierten, wir beiden Grossen. Wir hörten, was der Arzt uns sagte, um Till dann möglichst behutsam und mit ganz ruhiger Stimme zu erklären, dass wir leider hierbleiben müssen. Hierbleiben, das hiess verlegt zu werden auf die Onkologie-Station des Kinderspitals. Auf jene Station, die immer mein allergrösster Albtraum war. Und doch wurde in uns beiden Grossen von der ersten Minute an ein Überlebensinstinkt wach. Dieser Albtraum soll möglichst kindergerecht und sanft eingepackt werden für unsere Kinder. Der Krebs soll ihr Kinderleben nicht zerstören können.

Der Film «La Vita e bella», der einst im Kino lief, wurde zu meinem Vorbild. Da ist ein Papa mit seinem Sohn im Konzentrationslager und der Papa versucht die Welt für seinen Kleinen inmitten des Schreckens eine gute bleiben zu lassen.

Das war unser Motor, von der ersten Minute an nach der Diagnose. Und doch wussten wir, dass es eine unendlich schwierige Aufgabe sein würde, die wir nur mit Hilfe vieler Engel auf Erden bewältigen werden. «Till hat einen Hirntumor. Das schaffen wir nicht alleine. Wir brauchen euch alle», schrieb ich in dieser ersten Nacht auf Planet Onko an mein ganzes SMS-Adressverzeichnis.

Auf diesem Klappbett zu liegen neben seinem innig geliebten Kind, das gestern noch um den Weihnachtsbaum getanzt war und nun todkrank sein sollte, war kaum fassbar. Unmöglich in den Broschüren zu lesen in dieser Nacht ohne Schlaf. «Mein Kind hat Krebs» und «Chemotherapie und Bestrahlung» heissen sie. Unsere Welt gibt es nicht mehr. Von nun an wird es die Welt da draussen geben, die sich weiterdreht, wie wenn nichts geschehen wäre, und unsere Welt, in der alles stehen geblieben ist. Unsere Welt, das war nun die Welt, in der es auf die Frage, ob Till das überleben wird, die Antwort gibt: «Es gibt Kinder, die das überleben.» Unsere neue Welt, in der die Hoffnung wusste, dass sie nur zart und fein war. So viel wichtig Scheinendes wurde komplett unwichtig. Welchen Wochentag oder welchen Monat wir schrieben, spielte hier drinnen auf Planet Onko keine Rolle mehr.

An Neujahr wurde Till operiert. Es könne gut sein, dass er den Eingriff nicht überleben werde. Wir hörten die Worte wohl, trugen die schwere Last mit uns, kehrten zu Till ins Spitalzimmer zurück, um mit ihm zu spielen. Was kann man in einer so unerträglichen Situation denn Kostbareres tun, als in diesen vielleicht letzten gemeinsamen Minuten noch ein zufriedenes Kind anschauen zu dürfen, das sich freut, wenn es gewinnt, und das es gemütlich findet, dass Mama und Papa mit ihm spielen.

Diese Bilder hätten uns getragen, hätten wir Till an diesem Tag verloren. Als wir ihn zum Operationssaal bringen mussten, war er der Kapitän und wir stiessen sein Schiff durch die Spitalgänge. Er strahlte und wir fuhren Kurven mit seinem Krankenbett, so dass es sich für ihn anfühlte, als wäre sein Schiff in den Wellen. Um ihn, unseren innig geliebten kleinen Mann an der Türe des Operationssaales abgeben zu müssen, unwissend, ob wir ihn je lebend wiedersehen würden.

Elf Stunden warten zwischen Himmel und Erde. Nichts tun können als zu hoffen und fest zu wissen, dass er ein glückliches Kind gewesen ist, was immer nun auch passieren würde. Irgendwann dann der Anruf des Arztes, die Operation sei gut verlaufen und Till liege auf der Intensivstation. Das war der Anfang dieses neuen Lebens zwischen Himmel und Erde. An seinem Bett zu wachen nach der Operation, hoffend, dass er einfach noch einmal hoch kommt. Dass es ihm noch einmal so gut gehen wird, dass wir ihm nochmals alles an Liebe schenken können.

Ein langer Weg begann. Monate brauchte er, um wieder einigermassen beieinander zu sein nach der Operation. Monate, in denen er nur ein Hauch seiner selbst war. Das war nur zu ertragen, wenn wir es schafften, voll und ganz im Hier und Jetzt zu leben. Jeder gute Moment wurde wie ein kostbarer Schatz ins Herz eingepackt. Die Krebsstation wurde unser zweites Daheim. Da waren diese beeindruckenden Ärzte und Pflegenden, die liebevoller und kompetenter nicht hätten sein können.

Sie an unserer Seite zu haben, liess uns daran glauben, dass wir es schaffen werden, auf diesem neuen Planeten einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sie waren immer ehrlich und haben so sehr mitgehofft. Und da war diese Therapie. Sie war Tills einzige Chance. Aber sie war auch ein Albtraum. Doch auf Planet Onko gibt es kein Auswählen mehr. Es gibt nur diesen einzigen Weg.

Ein Monster ist dieser Krebs. Und gegen Monster muss man das happigst mögliche Geschütz auffahren. In der Hoffnung, dass es krass genug ist. Im Wissen, dass der Krebs am Ende stärker sein kann als alles, was unser kleiner Mann auf sich nehmen wird. So sehr hätten wir uns gewünscht, dass gerade jetzt der medizinische Durchbruch in der Behandlung von Tills Tumor bevorstehen würde.

Und noch immer, auch jetzt, sind wir jenen Menschen wie Tills Onkologe, Professor Dr. Michael Grotzer, dankbar ohne Ende, dass sie jeden Moment dranbleiben, was die Kinderkrebsforschung anbelangt. Sie und ihre Arbeit machen Mut, dass vielleicht irgendwann mehr Kinder überleben werden, und dass die Überlebenden von derart vielen Therapieschäden wie heute üblich verschont bleiben. Es ist so wichtig, dass die Kinderkrebsforschung genügend Geld erhält. Kinder müssten alt und schrumpelig werden dürfen. Und Kinder müssten nach einer Krebsbehandlung wieder ein ziemlich unbeschwertes Leben führen dürfen.

Ich wüsste nicht, wie wir dieses Leben im Ausnahmezustand über vier Jahre durchgestanden hätten, wären da nicht ganz viele Menschen an unserer Seite gewesen. Sie waren da und blieben da, egal, wie schwierig und traurig es wurde. Nur dank ihnen konnten wir für unsere Kinder da sein, weil sie uns alles andere abgenommen haben. Wenn Till abends im Spitalbett lächelte und sagte, das sei doch wieder ein so schöner Tag gewesen heute, dann war ich mir jedes Mal bewusst, dass der Tag nur so war, wie er war, weil viele Menschen als Helfer Teil dieses Tages waren.

Hätten wir diesen Weg als Kleinfamilie gehen müssen, wir wären wohl daran zerbrochen.

Wie hätten wir die Kraft gehabt für Kinderdisco im Spitalzimmer oder zwei zusammengebundene Rollstühle, mit denen mein Mann beide Kinder abends durch die leeren Kinderspitalgänge fuhr, hätten wir nicht so viel an Last und Arbeit abgeben dürfen? Es wurde für uns gewaschen, gekocht, eingekauft und endlos viel mehr. Sie alle werden unsere Helden bleiben, ein Leben lang. Mit Till war es ein Leben wie auf einer Berg- und Talbahn. Getragen von der Hoffnung auf ein Wunder, wissend, dass ein Wunder ein Wunder ist. Tills Welt wurde immer kleiner. Immer weniger konnte er machen. Die Therapiefolgen wurden spürbarer und der Krebs kam immer wieder zurück.

Es war Frühling 2010 als klar wurde, dass unser kleiner Mann keine Chance mehr hat. Ab heute ist Till ein Engel, sagte mein Mann auf dem Heimweg nach der vernichtenden Diagnose zu mir. Till wollte Alltag, auch jetzt. Er wollte Normalität mitten im Tornado. Was konnten wir ihm noch anderes schenken als das. Mit einem Engel unter einem Dach zu leben und ihm alles das noch zu geben, was wir ihm die nächsten Jahrzehnte an Liebe und Nestwärme hätten geben wollen. Was für eine schwere Aufgabe für ein Elternherz. Und doch waren wir so froh um diese kostbare Zeit mit ihm. Bewusst Abschied nehmen zu können von ihm, der sich bereit machte zum Abflug zu den Sternen. Irgendwann schaute er zum Himmel hoch und sagte: «Mama, wenn ich in den Himmel schaue, wird mein Herz ganz ruhig und warm.»

Jetzt war er plötzlich da, der Himmel. In unserem kirchenfernen Zuhause. Immer näher schien er zu kommen, immer öfters schaute er zu ihm hinauf, unser Grosser. Es war, wie wenn er abgeholt würde.

So viel mehr gibt es zwischen Himmel und Erde als das, was wir wissen und spüren. Da bin ich mir nach diesem Leben mit einem Engel und allem, was da geschehen ist so sicher. Und dann war er da, der Tag, an dem er seine Flügel ausbreitete und sich aufmachte zu den Sternen. Für immer werden wir zutiefst dankbar bleiben, dass er sanft und friedlich abfliegen durfte. Das war der einzige Wunsch, den wir noch für ihn, aber auch für uns hatten. Mach’s gut, innig geliebter Till, wo immer du auch bist.

Seit vier Jahren gehen wir den Weg weiter ohne unser Sternenkind. Das Leben wird nie mehr dasselbe sein. Wir werden nie mehr dieselben sein. Weil ein Kind fehlt und das Herz nie mehr ganz sein wird. Und doch müssen wir es schaffen, Schritt für Schritt zu gehen, weil da noch unsere zwei Erdenkinder sind, die uns so sehr brauchen. Malin, unsere Grosse, die ihren Bruder so sehr vermisst, und Neele, unsere Kleinste, die ihren Bruder nie kennengelernt hat.

Etwas zu machen aus diesem Irrsinn, ein Kind zu verlieren, das war für meine Mama, Tills Grossmama, und mich der einzige Weg. So entstanden die beiden Projekte www.sternenkinder-grosseltern.ch und www.herzensbilder.ch. Und auch das Buch «Sternenkind – Wie Till seinen Himmel fand» (erschienen im Wörterseh-Verlag), das Tills Grossmama geschrieben hat, ist Teil dieses Weges ohne ihn.

 

Prof. Dr. Michael Grotzer ist Leiter der Neuro-Onkologie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Er hat den bösartigen Hirntumor von Till behandelt und auch seine Familie mitbetreut (Lesen Sie das Interview hier).