Erlösung für das weibliche Geschlecht: Es gibt ihn, den vaginalen Orgasmus. Er ist besser, intensiver, emotionaler und ganzheitlicher als die blosse klitorale Entladung. Immerhin zwei Drittel aller über 20-jährigen Frauen wissen, wie man ihn auslöst. Nur ein Drittel machte noch nie diese Erfahrung. Dania Schiftan beruhigt: «Doch auch diese Frauen können vaginal zum Höhepunkt kommen.»
Scheide bedeutet für viele Frauen nur Klitoris
Wie sollen es die Frauen anstellen? Dania Schiftan: «Es ist alles eine Frage der Übung, und es hat damit zu tun, was die Frauen bisher praktiziert haben. Wenn ich die weiblichen Gehirne scannen könnte, würde ich bei vielen sofort sehen, wie wenig ausgeprägt die Verbindung zwischen Vagina und Gehirn, aber wie stark diejenige zwischen Klitoris und Gehirn ist. Scheide bedeutet für viele Frauen eben nur Klitoris. Ein typisches Muster. Viele Frauen sind so darauf eingefahren, dass bei ihnen alles andere nicht funktioniert. Glauben sie wenigstens.»
Warum ist das so? «Die Antwort ist simpel. Zwischen Vagina und Hand hat es bisher kaum Berührungen gegeben. Da lief die Mens durch, der Tampon drängte hinein, vielleicht gab es mal einen Pilzbefall und im besten Fall hat ein Kind durch sie das Licht der Welt erblickt. Es sind häufig schmerzhafte Ereignisse, die hier stattgefunden haben. Zwischen Vagina und Gehirn konnten noch keine positiven Verbindungen entstehen, vielleicht noch überhaupt keine. Ohne solche Verbindungen können aber weder Lust noch Erregung transportiert werden.»
Die Vagina ist wie ein Musikinstrument
Wenn Frauen diese Erklärung von Dania Schiftan hören, fühlen sie sich erleichtert. Sie sind nicht krank und nicht gestört und nicht liebesunfähig. Nein, sie haben es nur noch nicht gelernt, einen vaginalen Orgasmus erleben zu können. Übung macht auch hier den Meister, lautet die einfache Formel. Es ist wie beim Erlernen eines Instrumentes: Immer und immer wieder müssen die Töne gespielt werden. So lange, bis die Nervenverbindungen zwischen Händen und Gehirn stark genug sind. Dania Schiftan: «Die Frauen wenden häufig ein, dass sie doch schon so lange Sex haben und wissen, wie das geht. Ich vergleiche dann wieder mit dem Musikinstrument und stelle eine Rechnung an: Um das Musikinstrument zunehmend besser spielen zu können, braucht es Übung. Neben der wöchentlichen Stunde beim Musiklehrer jeden Tag mindestens zehn Minuten zu Hause. Das macht zusammen zwei Stunden pro Woche. Im Vergleich dazu hat eine 40-jährige Frau im Durchschnitt– je nach Partnersituation – 350 Mal Sex gehabt in ihrem Leben. Wendet man jedes Mal – egal, ob als Selbstbefriedigung oder mit dem Partner – sieben Minuten auf, kommen so nicht mehr als 40 Stunden zusammen. Wenig, oder? Würde sie gleich viel Zeit wie beim Erlernen eines Instruments investieren, käme eine 40-Jährige auf 1250 Stunden Sex.»
Die Rechnung zeigt auch: Eine 40-Jährige, die immer nur klitoral befriedigt hat, ist gar nicht in der Lage, ihre Vagina besser zu kennen. Und sie kann auf dem vaginalen Weg auch kaum Erregung spüren, weil der Pfad zu dünn ist. Natürlich ist die Region der Vagina deshalb nicht taub, aber sie ist nicht in die sexuelle Wahrnehmung integriert. Lernen heisst, Synapsen zu bilden und sie miteinander zu verknüpfen. Für das Gehirn spielt es keine Rolle, ob Sexualität oder ein Musikinstrument gelernt wird: Die Synapsen werden desto ausgeprägter, je mehr man trainiert. Und der Pfad wird zur breiten Bahn, je öfter man ihn beschreitet.
Das weibliche Geschlecht ist immer noch ein Tabu
Gibt es inhaltliche Erklärungen, warum der vaginale Pfad so dünn ist? Dania Schiftan: «Es gibt zwei Erklärungen. Zuerst den kulturellen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Das weibliche Geschlecht ist immer noch mehr tabu als das männliche. Es ist negativer beladen, es ist heikler und irgendwie unberechenbar. Viele Frauen gucken selber nicht richtig hin. Darum kursieren auch sehr viele Mythen. Was aussen in ihrer Vulva passiert, weiss die Frau. Was innen in der Vagina passiert, weiss sie nicht. Einige Frauen wissen nicht einmal, wo sie genau Wasser lassen. Zweitens: Das weibliche Geschlecht besteht aus mehreren Teilen. Beim Mann findet alles sichtbar am Penis statt, von frühester Kindheit ist er mit den Händen damit beschäftigt. Beim Wasserlassen, beim Duschen, bei der Selbstbefriedigung. Für ein Mädchen, das seinen Körper kennenlernt, ist aussen nur die Vulva mit der Klitoris greifbar. Ihre Vagina öffnet sich erst ab einem Alter von 9 oder 10 Jahren. Ab diesem Moment kommt aber fast kein Mädchen mehr auf die Idee, diesen neuen Raum aktiv zu entdecken. Er liegt brach. Weder im Elternhaus noch in der Schule wird den Mädchen gesagt, dass die Vagina ein schöner Teil ihres Körpers ist. Das hat auch mit Scham zu tun. Eltern freuen sich zwar, wenn Babys ihre Füsschen ertasten. Greifen sie hingegen ans Geschlechtsteil, gucken sie zur Seite. Im schulischen Sexualunterricht dasselbe: Er wird vielfach von Lehrerinnen und Lehrern erteilt, die sich selber schämen, wenn sie darüber sprechen sollen, was da unten passiert.»
Den vaginalen Orgasmus erlernen
Wie lernt die Frau, den vaginalen Orgasmus doch noch wahrzunehmen? Dania Schiftan: «Zuerst muss die Frau einschätzen, welcher Typ sie ist, welchen Erregungsmodus sie hat, welche Rollenbilder in ihr gespeichert sind. Dann muss ihr bewusst werden, was sie bisher immer gemacht hat, um zu kommen. Die meisten Frauen sagen, sie würden es halt normal machen. Aber was ist denn normal? Ich sage ihnen, dass sie sich selbst beobachten müssen. Nur schon diese Beobachtung hat mit Lernen zu tun. Beim Duschen und Baden das Geschlechtsteil erkunden, sich überall eincremen, berühren, sich anschliessend im Spiegel genau anschauen. Neun von zehn Frauen erleben hier erste Aha-Erlebnisse. Und dabei geht es nur um die Wahrnehmung. Erst im nächsten Schritt lernen wir die Erregung kennen.
Die meisten Frauen behaupten, in der Scheide drin passiere gar nichts. Das stimmt aber nicht. Sobald der Erregungsreflex ausgelöst wird, passiert ganz viel dort drinnen. Ich sage den Frauen, sie sollen mit der Stimulierung so beginnen, wie sie es gewöhnt sind, also über die Klitoris. Mitten in der Erregung sollen sie den Eingang der Vagina berühren. Dann wieder zurück zur Klitoris. Schritt für Schritt, hin und her, bis sie immer mehr neue Regionen entdeckt haben. Irgendwann merken sie, dass der Scheideneingang im ersten Drittel viele Reibungssensoren hat, und dass die Vagina weiter drinnen vor allem auf Druck reagiert. Da gibt es sehr viel zu entdecken. Die Fläche um den G-Punkt zum Beispiel fühlt sich leicht rauer und gerippt an. Sie ist etwa so gross wie ein Zweifränkler. In der Erregung wird sie grösser. Mit der Zeit bilden sich immer mehr Nervenbahnen in diesem Bereich, und das Empfinden wird intensiver.
Und ganz wichtig: Bei der Stimulierung soll sich der gesamte Körper bewegen, nicht nur die Hand. Man kann das auch zusammen mit dem Partner üben. Wie in einem Orchester kennt dann jeder sein Instrument, spielt aber in einem Verbund. Dann findet über die Augen, die Nase, die Ohren, den Mund, die Haut am ganzen Körper zusätzliche Stimulierung satt. Die Lust nimmt zu, der Körper schwingt sich in eine Ekstase, Emotionen lassen einen alles um sich herum vergessen. Die Frau lernt so, auf den Partner einzugehen, sich auch an seinen Rhythmus und sein Tempo anzupassen, ohne die eigene Erregung zu verlieren. Die Vagina verhält sich dann wie ein Ballon, der sich mehr und mehr aufbläst. Über Bewegung, Gedanken und Emotionen. Und ganz zum Schluss darf die Frau loslassen. Genital und emotional. In diesem Moment erlebt sie ihren vaginalen Orgasmus, spürt, wie sich die Spannung wellenartig und zuckend entlädt. Das ist viel mehr als eine reine klitorale Erfahrung. Das ist der volle, ganzheitliche, emotionale Höhepunkt.»
Tipp von Doktor Stutz: Vibrator, Kugeln und Kegel von Intimina
Kontakt
Dania Schiftan ist Psychotherapeutin und klinische Sexologin. www.daniaschiftan.ch