Hilfe, ich weiss nicht mehr weiter!

Eine schwere Schlafstörung und Flugangst, von einem Tag auf den anderen. Eine Leserin fühlt sich vergiftet und bittet verzweifelt um Rat. Eine Sprechstunde der besonderen Art. Mit überraschendem Ausgang.

Schlafstörung
Bild: fotolia.de, Urheber: Kittiphan

Gerade bin ich ziemlich verzweifelt. Ich leide seit Januar an einer Schlafstörung, die mich den Tiefschlaf nicht finden lässt. Ich bin 43 Jahre alt, Mutter von zwei pflegeleichten Kindern, verheiratet, und treibe regelmässig Sport, arbeite Teilzeit. Ich bin gesund, meine Blutwerte inkl. Schilddrüse sind in Ordnung. Mein Hausarzt weiss keinen Rat. Er meinte, ich brauche eine Psychotherapie, da ich unter Flugangst leide und ein Langstreckenflug ansteht. Diesen haben wir aber nun aufgrund meiner massiven Schlafstörung abgesagt. 

Bis im Januar hatte ich einen superguten Schlaf. Aber jetzt läuft das folgendermassen ab: Ich lege mich hin, bin am Einschlafen, da durchzuckt mich etwas und ich bin wach. Es kann sein, dass ich erschrecke ob meinem eigenen Atem, einem feinen Geräusch im Schlafzimmer. Ich schrecke zusammen und bin wach. Öfters bewegt sich ein Bein, ein Arm, der Kopf – nur kurz, mein Körper registriert die kleinste und feinste Bewegung, und ich bin wach. Ich finde nicht in den Tiefschlaf. Ich bin jedoch tagsüber nicht müde, nur mit der Konzentration happert es. Wenn man Neugeborenen zuschaut, wie sie schlafen, aufschrecken und wieder einschlafen: Genauso geht es mir. Einfach in „Gross“.

Ich habe in den letzten Wochen meine Essgewohnheiten, mein Tagesrhythmus, ja mein Leben hinterfragt. Ich habe alles hinterfragt, das ich hinterfragen kann, ich komme auf keinen Nenner. 

Ich bin verzweifelt. Ganz ehrlich. Ich finde es schrecklich, nicht schlafen zu können. Es ist nicht einmal der fehlende Schlaf als solches, sondern die Tatsache, dass ich trotz Yoga, Meditation etc. keinen Tiefschlaf mehr finden kann. Dass ich ob etwas erschrecke, meine Muskulatur macht, was sie will etc. Dass dies mein vegetatives Nervensystem offenbar so steuert. 

Heute Morgen jedoch, nachdem die Nacht erneut keinen Schlaf brachte, ich mir erneut den Kopf zerbrochen habe, woran es liegen könnte, und wir nun nach langem Ringen unseren gesamten vierwöchigen USA-Trip wegen meinem Problem abgesagt haben, ist mir ein Gedanke gekommen: Das zeitliche Zusammentreffen dieses Ereignisses hat mich stutzig gemacht: Seit Januar bin ich an einer Schaumverödung meiner Besenreiser dran. Ich bin alle paar Wochen zur Besenreiser-Schaumverödung nach Zürich gefahren. Exakt zum gleichen Zeitpunkt haben meine Schlafstörungen angefangen.

Könnte dies denn überhaupt sein? Können solch massive neurologische Störungen auftreten? Ich bin Laie, ich kann aus dem Internet nur gewisse Sachen herausziehen. Ich brauche Hilfe, Unterstützung auf der Suche nach der Ursache meines Problems, deshalb gelange ich an Sie. 

Könnten Sie mit mir zusammen herausfinden, woran ich leide und was ich dagegen tun kann? Wenn ich eine toxische Belastung habe im Körper durch dieses Präparat, wie werde ich diese Belastung los? Und: Kann ich sie überhaupt loswerden, oder könnte da etwas für immer und ewig geschädigt worden sein? 

Unsere Antwort:

Liebe Leserin, da bringen Sie mir aber einen kniffligen Fall, einen wahrhaft harten Brocken. Der Hausarzt weiss keinen Rat, das Internet hilft auch nicht weiter. Sie zerbrechen sich nächtelang den Kopf, suchen wie vergiftet nach einer möglichen Ursache, registrieren jede Bewegung des Körpers, und kommen auch nicht auf einen grünen Zweig. Und am Schluss sagen Sie noch eine vierwöchige Reise in die USA ab!

Seien Sie getrost. Auch ich kenne die Ursache nicht. Ich will Sie aber auch nicht ausfindig machen. Vielleicht gibt es auch gar keine. Ob Ihnen eine mehrjährige Psychotherapie weiterhilft, wage ich zu bezweifeln. Meiner Meinung nach fixiert Sie das Problem, das Sie haben, nur noch. Gar keinen Zusammenhang sehe ich mit der erwähnten Schaumverödung. Das ist reiner Zufall. Aber wir Menschen neigen dazu, alles erklären zu wollen.

Das Problem ist, dass Sie aus Ihrem Problem ein viel zu grosses Problem machen. Abend für Abend sind Sie komplett darauf fixiert. Und zu allem Unglück haben Sie die USA-Reise abgesagt. Hätten Sie mich vorher gefragt, ich hätte Sie acht Wochen in die USA geschickt! Durch diese Absage machen Sie Ihrem Problem einen ganz grossen Gefallen, indem Sie es viel zu wichtig nehmen. Nun fühlt sich Ihr Problem bestätigt und lässt Sie nicht mehr los. Es ist Ihnen sogar dankbar, dass Sie ihm so viel Aufmerksamkeit schenken und Sie sich ihm ausliefern.

Sprechstunde mit dem Problem vereinbaren

Gehen Sie einen ganz anderen Weg. Sagen Sie Ihrem Problem, dass Sie ab sofort nur noch höchstens eine halbe Stunde Zeit haben, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Vereinbaren Sie am besten dazu jeden Tag eine kurze Sprechstunde. In dieser Zeit reden Sie mit Ihrem Problem. Oder schreiben ihm. Sie geben ihm einen Namen. Fragen, was es von Ihnen will, woher es kommt. Den Rest des Tages lassen Sie Ihr Problem den Buckel runterrutschen. Wenn es etwas von Ihnen will, verweisen Sie es auf die Sprechstunde am nächsten Tag.

Indem Sie sich mit Ihrem Problem ganz strukturiert und zeitlich limitiert auseinandersetzen, gewinnen Sie wieder die Oberhand. Wenn Sie aufhören, es zu katastrophisieren, verliert es seine Bedrohung. Das Problem für sich alleine ist nicht schlimm. Schlimm ist nur, welch grosses Problem Sie aus Ihrem Problem machen. Alles klar? Schreiben Sie mir wieder! Ich bin gespannt!

Zwei Wochen später schreibt die Leserin:

Nach Ihrem Anruf habe ich nach einem schönen Notizheft gesucht, mich an den Tisch gesetzt und begonnen, meiner Schlafstörung zu schreiben. Dieser Briefwechsel setzte voraus, dass ich für sie einen Namen fand, und ich wurde relativ schnell fündig. Ich taufte meine Schlafstörung Rhizom. Ich habe diesen Namen gewählt, weil das Rhizom einer Bambusstaude nichts Gutes verheisst. Ein Rhizom kommt durch jede Ritze, ist lautlos, breitet sich aus und ist umschlingend. Für mich ist diese Schlafstörung genauso und klebrig dazu. In meinen Briefen drücke ich meine Wut aus, mein Unverständnis, ich mache meiner Schlafstörung klar, dass ich ohne sie leben kann.

Ich habe auch Ihre Empfehlung umgesetzt, erst dann zu Bett zu gehen, wenn ich wirklich sehr müde bin, und aufzustehen, wenn ich wach werde und innerhalb 20 Minuten nicht mehr einschlafe. Das befolge ich konsequent. Seither lässt mich mein Rhizom in Ruhe! Ich kann es auch kaum glauben. Aktuell schreibe ich einfach ein paar Sätze, wie: „Lass mich in Ruhe!“ Oder: „Ich brauche dich nicht!“

Falls mich doch ein Gedanke befällt, dass die Störung wiederauftauchen könnte, sage ich: „Geh weg!“ Das ist alles. Ich bin unaufgeregt und mache kein Thema daraus. Ich halte keinen Nährboden mehr bereit, damit sich das Rhizom weiter ausbreiten kann. Im Gegenteil: Ich entziehe ihm die Nahrung! 

Wir konnten unsere Stornierung der USA-Reise rückgängig machen! Zusätzlich habe ich mich für einen Online-Kurs zur Bewältigung der Flugangst angemeldet, der auf dem gleichen Prinzip beruht: „Ändere deine Gedanken! Verknüpfe die vormals ängstliche Vorstellung mit positiven Attributen!“ Ich bin zuversichtlich, dass es klappt. Wenn mein Hirn fähig ist, negative Gedanken zu erzeugen, ist es auch fähig, positive zu erarbeiten! Innerhalb kürzester Zeit bin ich wieder freier, leichter und kann wieder denken. Denn eine Schlafstörung vernebelt die Gedanken und lässt einen unentschlossen, verwirrt und ratlos im Alltag zurück. Der Nebel hat sich gelichtet. Ich werde weiterhin mein Notizbüchlein verwenden und es mit meinen Gedanken füllen. Dies ist die Sprechstunde fürs Rhizom. Mehr Platz räume ich dieser Störung nicht mehr ein!

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 15.08.2019.

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