Hilfe, wir haben keinen Sex mehr!

Wegen einer verpfuschten Operation hat ein Paar seit 14 Jahren keinen Sex mehr. Jetzt bittet sie uns um Rat. Lesen Sie, was der bekannte Paar- und Sexualtherapeut Henri Guttmann dazu meint.

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Bild: AdobeStock, Urheber: wip-studio

Ich – oder mein Mann und ich – habe ein riesiges Problem. Vor 14 Jahren hatte er eine Leistenoperation. Nun war es so, dass ihm zusätzlich nach einer Blinddarm-OP der Bauch wegen Verwachsungen geöffnet werden musste. Die Ärzte haben ihm ein Netz eingesetzt und dabei die Blase zerschnitten, die dann auch wieder operiert und fixiert wurde. Seither haben wir keine Sexualität mehr, weil nach einer Harnblasen-Spiegelung auch noch die Harnleiter verletzt wurde. Er hat keine Gefühle mehr vom Bauchnabel an bis nach unten. Sein Glied spürt er auch nicht mehr richtig. Da ging medizinisch gesehen sehr viel schief.

Ich konnte jetzt 13 Jahre mit dieser Situation umgehen, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich möchte mit 40 noch Liebe erleben, aber mein Mann will nicht mithelfen. Wir waren bei einem Sexualtherapeuten und bei einem Psychologen. Es half nichts. Er lehnt mich ab, und ich weiss mir nicht mehr zu helfen. Er verletzt mich zutiefst, wenn ich ihn anspreche und er sagt, dass er nicht meine männliche Hure und ich schwanzgesteuert sei. Das ist alles nicht wahr. Können Sie mir helfen? Ich möchte doch nur, dass wir eine Lösung finden.

Das sagt Paar- und Sexualtherapeut Henri Guttmann:

In meinem Praxisalltag kommen solche und ähnliche Situationen immer häufiger vor, das heisst, dass der Wunsch und die Lust nach Sex ungleich verteilt sind. In den letzten Jahren kommen zunehmend junge Paare und Paare mittleren Alters in meine Praxis mit dem Problem, dass der Mann kaum noch Lust auf Sex hat. Kaum noch Lust auf Sex bedeutet beim konkreten Nachragen, dass im letzten halben Jahr gar kein Sex mehr stattgefunden hat.

Nun ist es in der Biografie von allen Paaren völlig normal, dass die Lust auf Sex und Zärtlichkeit unterschiedliche Zeiten durchmacht. Da gibt es den Frühlings-Sex – wenn sich das Paar neu kennenlernt und total verliebt ist. Nach ein paar Jahren kommt der Sommer-Sex, wo beide lustvoll experimentieren und sich die Zeit neben dem Familienalltag für Zärtlichkeit und Sex organisieren müssen. Dann kommt der Herbst-Sex – das bedeutet Qualität vor Quantität. Und dann gibt es auch den Winterschlaf-Sex – das heisst, zurzeit läuft gar nichts. Doch der nächste Frühling kommt bestimmt, und wie bei einem Feuer ist es möglich, dass aus lauwarmer Glut wieder Funken sprühen können – wenn beide es so wollen.

Appetit auf Sex ungleich verteilt

Aus der Forschung wissen wir, dass der Appetit auf Sex bei fast allen Paaren ungleich verteilt ist und sich im Laufe des Paarlebens immer wieder verschieben kann. So haben Frauen bekanntlich nach der Geburt eines Babys erst nach einer gewissen Zeit wieder Lust, mit ihrem Partner die Sexualität zu leben. Diese verändert sich, oft wird sie intensiver, die Verhütung muss neu geklärt werden. All dies beeinflusst die Lust von Mann und Frau. Doch bei den meisten Paaren nimmt das sexuellen Begehren mit den Jahren ab. Das wird aber nicht unbedingt als problematisch wahrgenommen, wenn es für beide im Moment so stimmt. Hier gilt der Satz: A problem is only a problem – if it is a problem. Ein Problem ist nur ein Problem, wenn es ein Problem ist. Übrigens haben zwei 60-Jährige, die sich neu kennen lernen, in der Regel mehr Sex als zwei 30-Jährige, die schon 4 Jahre zusammenleben.

Opfer der eigenen Ansprüche

Bis vor zehn Jahren war die Aussage, dass Frauen weniger Lust auf Sex verspüren als Männer, eine Binsenwahrheit. Männer galten gesellschaftlich als immer geil, und in den Paarberatungen war es ein Standartthema: Hilfe, mein Mann will viel mehr Sex als ich! Den Männern wurde empfohlen, ihre Verführungsqualitäten zu steigern, ihren Frauen mehr Unterstützung im Haushalt und der Kindererziehung zu geben, damit mehr Energie für Zärtlichkeit und Sex übrig bleibt. Die Ursache, dass die Frau bis auf Weiteres keine Lust verspürt, wurde beim ungeschickten Mann gesucht, der nur das eine wolle und sich jetzt mal richtig ins Zeug legen sollte – damit bei seiner Liebsten die Lust wieder erwache. Leider hat diese Methode selten was gebracht, lag doch der Grund meist auf psychologischer Ebene, oder die Ursache war die totale psychische oder physische Erschöpfung der Frau, die Opfer ihrer eignen Ansprüche war, es allen recht zu machen. Hausfrau – Mutter – Berufs-Teilzeitarbeit – Liebhaberin – plus Schwiegermutter pflegen.

Gründe für die Unlust abklären

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Seit einiger Zeit kommen zunehmend Paare in meine Praxis mit dem Problem, dass der Mann kaum mehr Lust auf Sex hat. Die Frauen fühlen sich dadurch in ihrer Weiblichkeit gekränkt und verletzt, besonders, weil sie glauben, dass Männer doch immer wollen, nur meiner nicht. Beim Nachfragen fällt auf, dass die Ursachen und Gründe sehr unterschiedlich sind. Wichtig ist, dass zuerst abgeklärt wird, ob ein rein medizinisches Problem die Ursache ist. Hier ist der Hausarzt oder der Urologe die richtige Anlaufstelle für die Abklärung. Das können Veränderungen an der Prostata, zu niedrige Testosteronwerte, Tumore oder Durchblutungsstörungen, Alkohol, Rauchen oder Nebenwirkungen von Medikamenten sein. Bei einer klar medizinischen Ursache soll der behandelnde Arzt Lösungen mit dem Patienten suchen. Ein guter Indikator ist, ob der Mann bei sich die sogenannte Morgenerektion feststellen kann. Das wäre ein Hinweis, dass es sich hier vermutlich um eine psychologische Ursache handelt.

Pornoinduzierte erektile Dysfunktion

Die Liste mit den Ursachen, warum Männer nicht oder kaum zu Sex bereit sind, ist lang: PIED-Syndrom= Pornoinduzierte erektile Dysfunktion. Das bedeutet, dass zu viel Pornokonsum am Handy oder Computer dazu führt, dass dem Mann die Lust auf die eigene Frau zunehmend abgeht. Weitere Gründe: eine andere Frau. Nebenwirkungen von Medikamenten, zum Beispiel gegen hohen Blutdruck und Antidepressiva. Eine nicht erkannte Depression. Überlastung in der Arbeit. Sucht wie Alkohol und Cannabis usw. Spannungen in der Beziehung – ständig Streit. Midlife-Crisis – Burn-out. Die Frau nörgelt dauernd an ihm herum.

Viele Paare sind Opfer vom Mythos, dass Sexualität auch in langjährigen Paarbeziehung spontan entstehen sollte. Das ist – wie der Alltag mit Kindern zeigt – meist völlig unreal. Gehen Sie spontan in die Ferien? Laden Sie spontan sieben Freunde zum Essen ein zu sich nach Hause? Kaufen Sie spontan ein Haus oder ein Auto? Nein es wird geplant, und das macht die Aktion nicht weniger wert, im Gegenteil: Sie können sich darauf freuen – die Spannung wird dadurch sogar noch gesteigert.

Liebesabend bewusst einplanen

Es hat sich bewährt, dass Paare einen sogenannten Liebesabend ganz bewusst einplanen sollen – so circa einmal in der Woche. Einer von beiden übernimmt die Initiative, das heisst, er oder sie bestimmt das Vorgehen und die „Spezialeffekte“. Wenn Sie zuerst ein Kerzenlicht-Dinner möchten mit feinem Essen, Musik, Ölmassage und so weiter, können Sie das jetzt bestimmen – der andere lässt sich führen und verführen. Das nächste Mal wird gewechselt. In der Sexualität gibt es zwei grosse Entscheidungen: die erste ist, wer anfängt, und die zweite: wenn es „zur Sache“ geht. Diesen zweiten Teil soll man weiterhin spontan entscheiden. Das heisst, es wird nicht alles verplant, wie viele Leute bemängeln, wenn sie das zum ersten Mal hören. Die Befreiung vom Mythos der spontanen Sexualität hat bei vielen Paaren das Sexualleben wieder belebt.

Sexuelle Wünsche austauschen

Ein weiterer Punkt ist die Fähigkeit, sich über heimliche sexuelle Wünsche auszutauschen. Was möchtest du sexuell in deinem Leben einmal erleben? Ulrich Clement, der Sexualtherapeut aus Heidelberg, spricht hier vom ISS – vom Idealen Sexuellen Szenario. Solche gemeinsamen Gespräche über Tabuthemen können zum Pfeffer und zum Salz im Liebesmenu werden. Wem das nicht behagt, kann sich auch spielerisch mit dem Thema auseinandersetzen, dazu gibt es eine Anzahl Spiele, die für Paare entwickelt wurden, die ihr Sexualleben auf spielerische, heitere Weise reanimieren möchten.

Henri Guttmann, Paar- und Sexualtherapeut mit Praxis in Winterthur

www.henri-guttmann.ch

Guttmann Henri Portrait

 

 

 

 

 

 

 

Zum Fall unserer Leserin:

Aus dem Schreiben wird klar, hier wurde mit einer fachlichen Beratung lange – aus meiner Sicht zu lange zugewartet. Heute scheinen die Fronten bei beiden Partnern verhärtet. Die Gefühle füreinander sind erkaltet, und keiner fühlt sich im Stande, auf den andern zuzugehen. Aus paartherapeutischer Sicht kann einem Paar nur geholfen werden, wenn bei beiden noch ein Hoffnungsflämmchen glüht, dass man zusammen einen Weg gehen möchte.

Der Mann scheint in seinem Selbstwert nach der missglückten Operationen richtiggehend am Boden zu sein. Er verbindet zärtliches Zusammensein mit seiner Frau mit körperlichem Schmerz, persönlichem Versagen. Scham und Peinlichkeit und Ohnmachtgedanken sind nicht sehr erregende Gefühle.

Die Frau fühlt sich nach all den Jahren emotional ausgetrocknet und sexuell ausgehungert. Doch auch sie trägt eine Mitverantwortung an der heutigen Situation, hat sie doch 13 Jahre gewartet in der Hoffnung, alles löse sich von selbst.

In der Sexualität gilt die Regel: Wer weniger will – hat mehr Macht. Denn Sex findet mathematisch nur statt, wenn es heisst: Plus – Plus, bei Plus – Minus geht gar nichts mehr.

Ein Lösung des Problems könnten die Sätze des bekannten Sexualtherapeuten Ulrich Clement aus Heidelberg sein:

  1. Ich will Sex – aber nicht mit dir
  2. Ich will Sex mit dir – aber anders
  3. Ich will keinen Sex mit niemanden
  4. Schatz – ich will nicht darüber reden

Aus dem Schreiben vermute ich, dass der Mann schlicht nicht darüber reden will und dafür seine Frau beschimpft und abwertet. Hier müsste ihm klar gemacht werden, dass er mit seinem Verhalten die volle Verantwortung dafür trägt, was aus seiner Haltung resultiert. Ist er sich im Klaren, was dies für seine Ehe bedeutet? Möchte er, dass seine Frau ihn für einen andern verlässt? Erwartet er, dass sie auf ihre Sexualität verzichtet und ihm ewig treu bleibt?

Wenn in einer Paarbeziehung einer von beiden aus irgendeinem Grund auf die Sexualität, sei es aus medizinischen oder persönlichen Gründen, verzichten will, dann muss er, wenn er ihn/sie wirklich liebt, ein Stück frei geben. Es ist schlicht unfair, die Haltung zu haben, ich will halt keinen Sex – dein Problem, lass mich damit in Ruhe.

Eine Lösung wäre die sogenannte erweiterte Gärtlilösung: Hier gesteht sich das Paar ehrlich ein, dass beide sich auf dem Gebiet des Sexualität nicht mehr das geben können, was sie brauchen, und jeder Anspruch auf ein erweitertes Gärtli bekommt. Was nun in diesem Gärtli stattfindet, wird aber fair verhandelt. Zugegeben, es gibt nicht viele Paare, die das erfolgreich leben, aber es ist wenigstens eine klare Entscheidung. Wichtig ist, das Paar bleibt offiziell zusammen und sie bleiben sich Liebende auf einer freundschaftlichen Ebene.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 03.03.2022.

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