Hirnembolien wegen unbehandeltem Vorhofflimmern

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Menschen mit Vorhofflimmern werden oft fehl- oder überhaupt nicht behandelt. Die Folgen sind verheerend. Für die Betroffenen bedeuten die Versäumnisse bei der Therapie ein massiv erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, lebenslängliche Behinderung oder sogar Tod. Unser Bericht, worin die neusten Daten eines europaweiten Registers von über 28 000 Patienten zur Schlaganfall-Prophylaxe vorgestellt wurden, hat die Leserinnen und Leser alarmiert. Das zeigen die vielen Reaktionen eindrücklich. Ein Fall sei hier exemplarisch wiedergegeben.

«Mit grossem Interesse habe ich den Beitrag über Vorhofflimmern gelesen», schreibt die 75-jährige ehemalige Chefarztsekretärin Silvia Hartmann aus Altstätten. Seit über zehn Jahren sei bei ihr Vorhofflimmern bekannt, dokumentiert in einem EKG. Symptome hatte sie bis anhin zwar keine, doch schon ihre Mutter habe dieselbe Herzrhythmusstörung gehabt und sei von ihrem 70. Lebensjahr an antikoaguliert worden. Damals noch mit den alten Blutverdünnern. Der Arzt von Silvia Hartmann, ein Herzspezialist älteren Semesters, habe gemeint, ihr Vorhofflimmern trete nur sporadisch auf und sei deshalb vernachlässigbar. Eine Behandlung brauche sie deswegen nicht.

Im Herz bildeten sich Thromben

Dann passiert das, was bei allen Patienten mit Vorhofflimmern passieren kann, welche nicht die nötige Prophylaxe erhalten, und zwar unabhängig davon, ob das Vorhofflimmern Symptome macht oder nicht, oder ob es nur sporadisch oder dauernd auftritt: Im Herz der Leserin bildeten sich Thromben, die sich eines Tages lösten, mit der Blutbahn ins Hirn geschwemmt wurden und dort Hirnembolien verursachten. Bei der Patientin führten die Gefässverschlüsse im Gehirn zu einer kompletten Amnesie. Das heisst, sie konnte sich an überhaupt nichts mehr erinnern, sondern begann in einem Zustand völliger Verwirrtheit die Möbel in der Wohnung sinnlos zu verstellen und zerstörte dabei den Swisscom-Anschluss, bis sie schliesslich von ihrer Tochter gefunden und notfallmässig ins Spital eingewiesen wurde. Im Austrittsbericht hiess es wörtlich: «Multiple frische Ischämien im posterioren Hirnstammgebiet, kardioembolisch, verursacht durch Vorhofflimmern.»

Medikament, das vor Schlaganfällen schützen soll

VHF_Frau mit HundSilvia Hartmann hatte riesiges Glück. Im Spital bildeten sich unter adäquater Therapie alle Störungen vollständig zurück. Lähmungserscheinungen, Sprachausfälle oder andere häufige, schlimme neurologische Ausfallserscheinungen, die für Hirnschläge typisch sind, traten nicht auf. Entlassen wurde sie mit einem Medikament, das sie in Zukunft vor Schlaganfällen schützen soll. Und zwar genau mit jenem oralen Wirkstoff, den sie entsprechend geltender Richtlinien hätte erhalten sollen.

Brisant ist, dass vielfach genau jene Vorhofflimmern-Patienten medikamentös nicht geschützt werden, die ein hohes Schlaganfallrisiko haben und deshalb dringend auf eine Prophylaxe angewiesen wären. Weiter fällt auf, dass wenn Medikamente gegeben werden, dann noch allzu oft die alten Blutverdünner, die neuen hingegen zu selten. Heute gibt es einwandfreie Daten aus wissenschaftlichen Studien, welche zeigen, dass die neuen den alten Blutverdünnern klar überlegen sind, vor allem bezüglich Sicherheit. Insbesondere das deutlich reduzierte Risiko für eine Hirnblutung sollte dazu führen, dass Patienten mit Vorhofflimmern konsequent und nach den neusten Kriterien vor Schlaganfällen geschützt werden.

Ab 65 regelmässig Blutdruck und Puls messen

Um Vorhofflimmern möglichst frühzeitig zu entdecken, sollte man ab 65 nicht nur regelmässig den Blutdruck, sondern auch den Puls messen und dabei auf Unregelmässigkeiten achten. Es geht darum, zu verhindern, dass jemand Vorhofflimmern erst entdeckt, wenn er den ersten Hirnschlag erleidet. Am besten geht das mit einem Blutdruckmessgerät, das irregulären Herzschlag erkennt und eine entsprechende Warnfunktion hat.

An die Blutverdünnung denken

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PD Dr. med. Jan Steffel, Leitender Arzt Kardiologie/Rhythmologie am Universitären Herzzentrum Zürich

PD Dr. med. Jan Steffel, Leitender Arzt Kardiologie/Rhythmologie am Universitären Herzzentrum Zürich, über die Gefahren von Vorhofflimmern.

Der Schlaganfall ist eine der gravierendsten Komplikationen des Vorhofflimmerns. Das zeigt der eindrückliche Fall exemplarisch auf. Mit der Blutverdünnung, speziell mit den neuen oralen Antikoagulantien steht uns eine sehr effektive und verhältnismässig sichere Möglichkeit zur Verfügung, dieses Risiko deutlich zu senken. Wenn das, wie dieses Beispiel zeigt, in vielen Fällen nicht geschieht, ist es meistens keine böse Absicht des behandelnden Arztes; es ist vielmehr Folge einer unkorrekten Gewichtung der Risiken. Eine Blutung bei einer Antikoagulationsbehandlung ist in der Wahrnehmung des Arztes immer ein «iatrogenes» – vom Arzt «verursachtes» – Ereignis. Im Unterschied dazu wird ein Schlaganfall, der auf dem Boden einer fehlenden Blutverdünnung entsteht, oft als «natürlicher Verlauf» der Erkrankung interpretiert. Doch in den meisten Fällen ist es genau umgekehrt. Hinzu kommt, dass ein Arzt bei der Antikoagulation seiner Patienten praktisch nur Misserfolge sehen kann – eben Patienten, die eine Blutung erleiden. Den Erfolg, also den verhinderten Schlaganfall, sieht er nicht direkt. Das führt dazu, dass die Blutverdünnung zu wenigen Patienten zugutekommt.

Bei der Blutverdünnung müssen viele Faktoren berücksichtigt werden. Es gibt durchaus Patienten, bei denen das Blutungsrisiko so hoch ist, dass eine Blutverdünnung nicht durchgeführt werden kann. Allerdings sind diese Patienten klar in der Minderheit; bei den meisten ist das Risiko für einen Schlaganfall deutlich höher. Das vorliegende Beispiel erinnert uns Ärzte daran, bei jedem Patienten mit Vorhofflimmern genau zu prüfen, ob eine Blutverdünnung notwendig ist. Darüber hinaus kann der geschilderte Fall die Patienten selber ermutigen, bei ihrem Hausarzt, Internisten oder Kardiologen eine mögliche Blutverdünnung zu thematisieren beziehungsweise zu hinterfragen.