Hoffen auf das Licht

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Heirat auf der Intensivstation, ein Spenderherz in letzter Minute. Die bewegende Geschichte von Renata Isenschmid. Auf das Herz eines anderen Menschen hoffen? Eines Menschen, den sie nie kennenlernen wird, weil sein Tod ein Bündnis mit ihrem Leben eingeht? Eines glücklichen Menschen, der in diesem Moment vielleicht gerade seiner Tochter einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückt? Der nicht ahnt, dass sein Leben in Kürze enden wird? Dessen Tod ein Loch reisst in eine andere Familie? – Solche Gedanken plagten Renata Isenschmid, 53, aus Erlenbach ZH in jenen Tagen. Wenn sie leben wollte, blieb keine Wahl. Sie musste auf die Organspende hoffen. Kunstherz nannte sich der Apparat, der neben ihrem Krankenbett stand und der gar nicht aussah wie ein Herz, aber unaufhörlich pumpte und sie maschinell am Leben hielt. «Jetzt machen sie medizinische Versuche mit mir, fuhr es mir durch den Kopf, als ich aufwachte. Schrecklich, dieses Geräusch. Schrecklich, diese Maschine. Kein Wort konnte ich sprechen, aber auf ein Stück Papier schreiben. Meinen Vater wollte ich sehen, nur ihn. Er sollte mich hier rausholen. Einfach weg, damit ich möglichst schnell aufwachen würde aus diesem Albtraum.»

Renata Isenschmid träumte nicht. Richtig mitbekommen hatte sie trotzdem nichts. Hals über Kopf hatte man sie an die Maschine anschliessen müssen, weil ihr eigenes Herz nicht mehr schlagen konnte. Zu schwach, mit 44. Neun Jahre ist das her. Auf einem Frühlingsspaziergang war ihr die Luft weggeblieben. Irgendwie schienen die Kräfte sie zu verlassen. Einfaches Treppensteigen wurde zur Herausforderung. Hartnäckiger Husten kam hinzu. Ein Virus? Trotz Medikamenten keine Besserung. Im Gegenteil: Wasser auf der Lunge, Überweisung zum Spezialisten, Verdacht auf Lungenkrebs. Dann Entwarnung: die Lunge gesund, doch das Herz schwach.

Drei Tage später der komplette Zusammenbruch. «Ich konnte nicht mehr gehen, musste mich auf allen Vieren durch die Wohnung bewegen. Am Boden zerstört, wie ein Häufchen Elend.» Es war Auffahrtsmorgen im Mai 2004. Mit dem Rega-Heli wurde die Erlenbacherin ins Inselspital Bern geflogen. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Herz tot.

Da lag sie nun inmitten unzähliger Schläuche. Neben ihr das lärmige Monster von Maschine. Vorübergehend, hiess es, bis ein Spenderherz gefunden sei. «Ein Spenderherz? Für wen? Mich? Warum? Mit dem Thema Herztransplantation hatte ich mich noch nie auseinandergesetzt. Wieso auch? Es gab keinen Anlass dazu. Nur jetzt war die Lage auf einmal ernst. Sehr ernst. Noch auf der Intensivstation machte mir mein Lebenspartner einen Heiratsantrag. Ich sammelte all meine Kräfte und gab ihm das Ja-Wort. Anders, als ich es mir je ausgemalt hatte. Mir war schlecht. Die Nähte bluteten, meine Atmung war schwer und mein Lebenswille beinahe gebrochen. Würde es Wochen, Monate oder noch länger dauern, bis ein geeignetes Spenderherz verfügbar war?»

Die Zeit zog Fäden. Die Gedanken drehten im Kreis. Wut und Wünsche wechselten sich ab. Gebete und Flüche hielten sich die Waage. Die Helikopter landeten und starteten auf dem Spitaldach. «Immer, wenn einer kam, verneigten sich die Bäume. Mächtig, gewaltig. Als ob sie etwas ausdrücken wollten. Hochachtung vor der medizinischen Leistung, Leben zu retten? Zustimmung? Dankbarkeit? Bei jedem Anflug dachte ich an den Menschen, der gerade eingeliefert wurde. Und was wird aus mir? Wie lange halte ich es hier aus? Ich schwankte zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Der Arzt spürte mein seelisches Tief und arrangierte ein Treffen mit einer erfolgreich herztransplantierten Person. Die Dame war aufgestellt, positiv und lebensfroh, als sie mich im Spital besuchte. Die Begegnung gab mir Auftrieb. Ein Funken von Zuversicht entzündete sich in meiner doch so leeren Brust.»

Es war Freitagnacht, der 25. Juni 2004. Im TV lief ein Thriller. Ungewohnt spät platzte der Arzt ins Zimmer. «Wie es mir gehe und ob ich bereit sei, fragte er. Er habe ein Spenderherz für mich. Ich müsse aber noch die schriftliche Zusage erteilen. Was blieb mir anderes übrig? Dieses Herz war meine einzige Chance. Ich rief meinen Mann an und sagte, dass es jetzt losgehe. Ersehnt und doch völlig unerwartet. Ich weiss noch, wie sehr ich mich gegen das Einschlafen wehrte – aus Angst, nicht mehr aufzuwachen. Gebete begleiteten mich in den nächsten Morgen.»

«Wie viele Stunden vergangen waren, wusste ich nicht. Der Mann neben mir röchelte ständig und ich hatte wahnsinnig Durst. Doch da war noch etwas. Mein Herzschlag! Zum ersten Mal im Leben konnte ich meinen Herzschlag richtig spüren. Mein Bett schien im Takt zu zittern. Jeder Schlag durchströmte meinen ganzen Körper. Angenehm und doch voller Angst. Die Operation war vorbei und ich noch am Leben. Gedanken schossen kreuz und quer durch meinen Kopf. Freude bei mir und Trauer in irgendeiner anderen Familie. Mir war sofort bewusst, dass ein anderer Mensch gestorben ist. Nicht wegen mir. Aber für mich. Wer war dieser Mensch, dessen Herz nun in meiner Brust weiterlebte? Ein guter? Ich wünschte es mir. Aber man gab mir keine Auskunft.»

Renata Isenschmid hat das neue Herz angenommen, es als Freund willkommen geheissen. Ihm von Anfang an bedingungslose Liebe entgegengebracht. «Mehr als neun Jahre schlägt es nun in meiner Brust und hält mich am Leben. Ich denke viel an den Tag der Transplantation. Auch heute sind die Tränen der Dankbarkeit noch nicht getrocknet. Jeder Moment ist wie ein Geschenk für mich. Ich kann wieder arbeiten, die Tablettenliste hält sich in Grenzen und ich fühle mich gut. Ich bin allerdings viel vorsichtiger als früher. Speziell im ersten Jahr nach der Transplantation schaute ich wie ein Heftlimacher, dass ich ja keinen Virus einfange, der mein Herz belasten würde. Mittlerweile hat sich das gelegt. Mein Mann sagt, ich sei der gleiche Mensch wie vorher. Etwas gelassener, wie ich finde. Ich muss mich nicht mehr so beweisen wie früher, nehme alles leichter. Die Nähe zum Tod hat mir einen ganz neuen Bezug zum Leben beschert.»

Eine neue Angewohnheit hat Renata Isenschmid allerdings. «Ich blättere öfters in der Zeitung die Todesanzeigen durch. Das habe ich früher nie getan. Und wenn ich lese, dass jemand durch plötzlichen Herztod von dieser Welt gehen musste, frage ich mich, warum dieser Mensch das Glück einer zweiten Chance nicht bekommen hat.» Jenes Glück, dass Renata Isenschmid für sich in Anspruch nehmen durfte, und das sich wie durch Zufall in ihrem Vornamen ausdrückt. Renata ist lateinisch und heisst «die Wiedergeborene».

www.swisstransplant.ch, Gratis-Infoline 0800 570 234


Sterben auf der langen Bank

Sie warten auf eine Organspende, doch jede Woche fallen zwei von ihnen dem Warten zum Opfer. PD Dr. Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, spricht Klartext.

Ist der Mangel an Spenderorganen ein Schweizer Problem?

Die Bereitschaft in der Schweizer Bevölkerung Organe zu spenden ist sicher genauso gross wie in unseren Nachbarländern. Es kommt jedoch bei uns noch zu oft vor, dass man im Spital entweder nicht an die Organspende denkt, die Angehörigen aus mangelnder Fachkenntnis nicht offen und transparent informieren kann, oder dass persönliche Einstellungen und Interessen des Fachpersonals eine Organspende verunmöglichen. Wir gehen auch davon aus, dass sich rund die Hälfte der Bevölkerung keine Meinung zum Thema Organspende gebildet hat. Zum Schluss müssen dann die Angehörigen stellvertretend für den Verstorbenen entscheiden, was sehr belastend sein kann.

Können Sie Zahlen nennen?

Kaum ein Land in Europa hat so wenige Organspender pro Million Einwohner wie die Schweiz. Die Folge ist ein rasanter Anstieg der Warteliste auf aktuell knapp 1300 Menschen, die alle ein neues Organ benötigen. Immer mehr versterben auf dieser Warteliste oder müssen von ihr gestrichen werden, weil sie mittlerweile zu krank sind, um noch transplantiert werden zu können. Auf diese Weise sterben in der Schweiz zwei Menschen pro Woche. Eine Zahl, die ohne Weiteres halbiert werden könnte, wenn wir wie unsere Nachbarländer Frankreich oder Österreich doppelt so viele Spender hätten pro Million Einwohner.

Wer kommt als Spender in Frage?

Organspende ist bis ins hohe Alter möglich. Ausgeschlossen sind lediglich Menschen mit aktiven Krebserkrankungen und Menschen, die an einer unklaren schweren Infektion leiden. Der älteste Spender letztes Jahr war 88 Jahre alt, seine 91-jährige Frau hat im Sinne ihres Mannes in die Spende eingewilligt. Zwei Nieren und die Leber konnten drei Menschen auf der Warteliste zugeteilt werden.

Wann dürfen Spenderorgane entnommen ­werden?

Der Hirntod muss eingetreten sein. Das ist dann der Fall, wenn das gesamte Gehirn komplett und unwiderruflich ausgefallen ist und nicht mehr durchblutet wird. Zwei Spezialisten müssen das nach einem vorgegebenen Protokoll untersuchen und unabhängig voneinander bestätigen. Da der Patient im Hirntod seinen Körper nicht mehr am Leben halten könnte, wird er auf der Intensivstation künstlich beatmet und mit Medikamenten versorgt. Dieser Zustand ist nicht mit dem Koma zu verwechseln, wo das Gehirn durchblutet bleibt und der Patient sich wieder erholen kann.

Hat das geringe Spenderbewusstsein mit ­Verdrängung zu tun?

Man schiebt das Thema gerne weit von sich weg. Viel zu wenig denkt man daran, dass der Tod – und zwar in allen Altersklassen – jederzeit auch einen selber betreffen kann. Es wäre äusserst hilfreich, wenn man sich zu diesem Thema mit seiner Familie austauscht, Wünsche und Vorstellungen kommuniziert. Bei der Organspende kommt nämlich noch ein anderer Aspekt hinzu: Gemäss Umfragen würden neun von zehn Menschen die Chance auf ein lebensrettendes Organ für sich oder ihre Kinder ergreifen, aber nur gerade vier von zehn sind bereit, selber Organe zu spenden. Da besteht ein Missverhältnis. Jeder sollte sich vergegenwärtigen, dass auch Organspende ein Geben und Nehmen ist.