Ich dachte, ich werde blind

Nock Augen Aufmacher

Auf den Trägerseilen der Luftseilbahn war er Richtung Zugspitze geschritten. Ohne Abspannungen hatte er auf einem Drahtseil den Thunersee überquert. Kirchtürme hat er erklommen, über Schluchten ist er gegangen, waghalsige Rekorde hat er aufgestellt. Alles ungesichert, nur mit der Balancierstange in den Händen. Doch sein grosses Ziel, vom Klein Matterhorn aufs Gross Matterhorn zu laufen, war plötzlich in Gefahr. Freddy Nock – Hochseilartist, Stuntman und Extremsportler – verlor an Sehkraft. «Ich hatte im Verlauf meiner Karriere schon den einen oder anderen Splitter im Auge. Daran lag’s nicht. Aber seit geraumer Zeit störte mich dieser Schimmer auf der linken Seite. Ausgerechnet während meines Engagements beim Zirkus Knie wurde mein Blick trüber und verschwommener. Ein Arzt sprach vom Grauen Star und empfahl mir, das Auge operieren zu lassen. Ich folgte dem Rat, doch zufrieden war ich mit dem Eingriff nicht. Auch Monate später konnte ich nicht scharf in die Nähe gucken und immer wieder wurde mein Sichtfeld durch irgendetwas für einen Moment verdunkelt.»

Schwäche zeigen und aufgeben kam nie in Frage

Freddy Nock nahm’s hin, arbeitete unbeirrt weiter. «Wir wurden zu Hause nie verhätschelt. Ich bin so erzogen worden, bin oft gefallen und immer wieder aufgestanden. An der Hand habe ich ein Überbein, einer meiner Finger ist schief, meine Knie wurden zweimal operiert, der Schleimbeutel am Ellenbogen steht etwas hervor. Und jetzt halt noch das Auge. Schwäche zeigen kam für mich nie in Frage, aufgeben erst recht nicht. Aufhalten kann mich niemand. Mit elf sagte ich meiner Mutter, ich wolle auf den Seilen der Gondelbahn in St. Moritz laufen. Ich wollte auch mit Cowboystiefeln und ‹Zoggeli› balancieren. Mein Vater intervenierte. Doch ich übte heimlich, ging bei jeder Gelegenheit aufs Seil. Ich habe Katzen beobachtet, wie sie fallen. Habe einiges von Kung-Fu-Schauspieler Bruce Lee abgeschaut. Aus allen Erfahrungen habe ich meine eigene Technik entwickelt.»

Auch nach vier Jahren hatte sich das linke Auge nicht gebessert, wurde mehr und mehr zum Sorgenkind. «Oft sah ich nur verschwommen. Ich dachte sogar an den Grünen Star, befürchtete, früher oder später mein Augenlicht ganz zu verlieren und fragte mich, ob ich auch als Blinder auf dem Hochseil würde bestehen können. Ich dachte ganz pragmatisch, wollte gewappnet sein für diesen Moment, machte aus der Not eine Tugend und begann mit einem lichtdichten Spezialhelm zu üben. Drei Monate lang trainierte ich in meinem Garten in Uerkheim blind zu balancieren. Jeden Tag, bei jedem Wetter. Mit der Zeit wurde mein Gleichgewichtssinn besser, mein Gefühl für den Raum ausgeprägter. Für mich war klar: Auch ohne Augenlicht wollte ich das Seil beherrschen, nicht das Seil mich.»

Freddy Nock

Warum Freddy Nock sein Problemauge nicht schon längst dem Augenarzt zeigen wollte, weiss er nicht so recht. «Vielleicht hatte ich einfach nur Respekt vor einem weiteren Eingriff.» Doch eines Tages meldete er sich an. Nicht am Ort der ersten Operation, sondern in der Pallas Klinik in Aarau. Chefarzt Prof. Carsten H. Meyer: «Im ersten Moment konnte ich auch nichts Besonderes erkennen. Ich habe aber den Schilderungen von Freddy Nock genau zugehört und begann, das betroffene Auge geduldig unter dem ­Mikroskop zu beobachten. Und dann konnte ich es einmal kurz sehen! In Ruhelage schien alles normal, bei bestimmten Augenbewegungen im vorderen Glaskörper entdeckte ich direkt hinter seiner Kunstlinse eine grossflächige flottierende Trübung, die exakt zu den von Freddy Nock beschriebenen Problemen passte. Die Diagnose: Nach seiner Katarakt-Operation war der Nachstar nur inkomplett behandelt worden, und die Trübung bewegte sich wie eine offene Tür im Wind bei jeder kleinsten Augenbewegung im Glaskörper hin und her. Seit vielen Jahren verdeckte der grosse Floater wie eine Mattscheibe ab und zu die Pupillenöffnung. Ich habe das bewegliche Stück gelöst und gleichzeitig eine restliche Hornhautverkrümmung mit einem Entlastungsschnitt beseitigt. Seither kann Freddy Nock wieder symptomfrei und perfekt sehen.»

Für den 52-jährigen Hochseilartisten hat alles ein gutes Ende genommen. Nicht nur aus medizinischer Sicht. Die Erfahrungen mit dem Blindsein haben ihn beflügelt, seine Technik und sein Raumgefühl weiter zu verbessern. Und er hat sein Arbeitsgerät in einer neuen Dimension kennengelernt. «Das Seil ist mein Leben, ich bin mit dem Seil aufgewachsen und mit 80 werde ich immer noch auf dem Seil laufen. Es ist mehr als nur Nervenkitzel und Show für die Zuschauer. Es ist Rückzugsort für mich. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich aufs Seil, setze mich hin und sortiere meine Gedanken. Ich sitze ruhig in der totalen Balance, mache mentales Training. In dieser Position löse ich jedes Problem. Wut erträgt das Seil nicht. Nur Ruhe und das vollkommene Verschmelzen von Zeit und Raum.

Was ist ein Nachstar?

Der Nachstar ist die häufigste Folge einer Katarakt-­Operation. Er ist harmlos. Beim Austausch der körper­eigenen trüben Linse durch die glasklare Kunst­linse bleibt die Linsenkapsel erhalten. In den Wochen oder Monaten nach der Operation kann es passieren, dass sich im hinteren Teil der Linsenkapsel bestimmte Zellen faserartig vermehren, was zu Trübungen führt. Zur Entfernung dieser Zellfasern ist keine erneute Operation notwendig. Es genügt eine ambulante Behandlung mit dem Laser.

Kontakt und Informationen

Prof. mult. Dr. med. Carsten H. Meyer, FEBO

Chefarzt, Facharzt FMH für Ophthalmologie und Ophthalmochirurgie

Pallas Klinik Aarau
Telefon 058 335 00 00
[email protected]
www.pallas-kliniken.ch/augen