Ich habe meinen Mann verloren

Ich weiss nicht, wie lange ich noch Kraft habe, schreibt uns eine Leserin, die zuerst jahrelang ihre an Alzheimer erkrankte Mutter betreute und jetzt zusehen muss, wie sich ihr 60-jähriger Mann wegen einer schweren Form von Demenz total verändert.

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Oft setze ich mich in traurigen Momenten an die Aare oder an einen Waldrand. Im Frühling ist es doppelt schwer beim Wandern oder Velofahren glücklichen Paaren in meinem Alter zu begegnen, die den Augenblick geniessen und miteinander reden. Nichts von alldem ist bei uns mehr vorhanden, auch wenn mein Mann neben mir ist, mich jedoch nicht mehr spürt, sondern nur noch in seiner eigenen Welt lebt. Es ist nichts mehr wie es einmal war. Das Schicksal wollte es so. Es ist ein kleiner Trost, dass es vielen anderen Menschen in meinem Alter auch so geht. Es ist deshalb umso wichtiger, dass man in guten Tagen dankbar ist und verständnisvoll miteinander umgeht und sich in schwierigen Zeiten keine Vorwürfe machen muss.

Im zwischenmenschlichen Bereich stark verändert

Wie kam es dazu? Seit Sommer 2010 erlebe ich ratlos und fragend, weshalb sich mein Mann, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich, so stark verändert. Inzwischen weiss ich, dass er an einer Frontotemporalen Demenz leidet, die zwar seltener ist, aber umso intensiver verläuft. Er fühlt sich überhaupt nicht krank, was für diese Demenzform absolut typisch ist. Das macht das Ganze für mich enorm schwierig. Die Diagnose wurde sehr spät gestellt. Lange Zeit wurde ich von unserem Hausarzt nicht ernst genommen. Von aussen spürt man jahrelang nichts. Die Patienten können sehr überzeugend erzählen, dass es ihnen bestens gehe.

Es gibt jeden Tag Situationen, die mich vor den Kopf stossen und enorm herausfordern. Mein Mann spürt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er ist auch noch zu vielen Tätigkeiten fähig. Aber man kann ihn nicht darauf ansprechen. Es würde ihn sofort beleidigen. Ohnehin verhält er sich mir und unseren erwachsenen Kindern gegenüber oft sehr provozierend.

Alle haben das Gefühl, er sei kerngesund

Als ihm vor einem Jahr der Führerausweis entzogen werden musste, da er die Distanzen völlig falsch einschätzte und er damit begann, seine eigenen Verkehrsregeln aufzustellen, traf ihn das unheimlich. Er fühlt sich ja kerngesund. Diese totale Uneinsichtigkeit und die dazugehörenden manischen Depressionen erschweren dem Partner das Zusammenleben im Alltag enorm. Nach Aussen gibt sich mein Mann topfit und plaudert mit den Leuten über Gott und die Welt. Und alle haben das Gefühl, er sei wirklich kerngesund.

Zeitgefühl und Arbeitsorganisation völlig abhandengekommen

Kaum ist mein Mann aufgestanden, sucht er nach Lebensmitteln und fragt mich, ob ich auch etwas essen wolle. Es dreht sich bei ihm viel ums Essen. Hin und wieder beginnt er zu kochen, geht dann aber immer wieder mal vor den Fernseher und legt sich hin. Das Zeitgefühl und die Arbeitsorganisation sind ihm völlig abhandengekommen. Er schämt sich auch nicht mehr, sich mir gegenüber mit offenem Hosenschlitz und erregtem Penis auf dem Sofa in spezieller Pose zu zeigen. Ich habe mir vorgenommen, ihn darauf anzusprechen und ihn darauf hinzuweisen, dass ich das nicht mag.

Die meiste Zeit muss ich mich ruhig und still verhalten

Die meiste Zeit muss ich mich ruhig und still verhalten, wenn ich mit ihm zusammen bin. Ich darf mich nicht zu zwischenmenschlichen oder alltäglichen Situationen äussern, die ich früher noch problemlos mit ihm besprechen konnte. Fragt er mich etwas, kann ich antworten, was ich will – er findet mich unmöglich und beleidigt mich, da er eine komplett andere Wahrnehmung hat als früher. Am besten ziehe ich mich ins ehemalige Kinderzimmer zurück, wo ich mich unterdessen eingerichtet habe, weil er nachts sehr unruhig ist und keinen Schlafrhythmus mehr hat. Und weil ich auch spüre, dass er keinerlei Gefühle und Gespür mehr für mich hat, sondern mich nur noch als Störfaktor betrachtet.

Heutige Situation ist sehr schwierig

Die heutige Situation ist sehr schwierig, da ich eigentlich mit meinem Partner zusammenlebe, ihn aber trotzdem schon verloren habe. Aber vielleicht sucht er im späteren Verlauf der Krankheit plötzlich wieder meine Nähe. Man weiss einfach nicht, wie diese Krankheit im Einzelfall verläuft.

Ich musste inzwischen lernen, alleine oder mit jemandem zusammen etwas zu unternehmen. Ich kann nicht mehr länger nur auf ihn warten. Muss ich auch nicht, weil er lieber alleine etwas macht. So fühlt er sich wohl und auch nicht kontrolliert.

Jeden Tag nehmen, wie er kommt

Ich habe gelernt, jeden Tag so zu nehmen wie er kommt. Anders geht es nicht. Ich bin auch sehr dankbar, dass ich noch Teilzeit arbeiten darf und mein Arbeitgeber sehr viel Verständnis für meine Situation hat. Bei der Arbeit kann ich mich selbst sein und muss nicht jedes Wort auf die Waagschale legen und denken, dass ich wohl etwas Falsches sagen könnte.

Ich finde die Kraft in der Natur und im Gespräch

Ich weiss ganz ehrlich nicht, wie lange ich so stark sein kann. Momentan finde ich die Kraft in der Natur und im Gespräch mit unseren erwachsenen Kindern und meinen engsten Freundinnen. Ich weiss es wirklich nicht und lasse alles auf mich zukommen. Ich weiss aber, dass ich Hilfe und Unterstützung annehmen kann und soll. Ich denke da an die Alzheimervereinigung und Pro Senectute. Ich habe erlebt, dass diese beiden Organisationen einem wirklich grossartig mit Rat und Tat zur Seite stehen. Von beiden wurde ich von Anfang an getragen, nachdem die Diagnose gestellt wurde. Bei einem Angehörigen-Treffen von Pro Senectute erfuhr ich auch, dass es sehr wichtig ist, rechtzeitig mit dem Docupass einen Vorsorgeauftrag zu erstellen, damit man auf alles vorbereitet ist.

Weitere Informationen rund ums Thema Demenz finden Sie auch auf www.memo-info.ch

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 09.06.2016.

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