Ich tue meinem Körper weh

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Magersucht, Essanfälle, Depression, Scham und Verzweiflung. Eine junge Leserin hat keine Kraft mehr und bittet uns um Hilfe.

Ich bin 22 Jahre alt und leide seit ich 15 bin an Essstörungen. Übergewichtig war ich nie, aber ein paar Kilos wollte ich schon immer abnehmen. Mit 16 Jahren war es so weit. Ich riss mich zusammen und liess Gipfeli, Süssgetränke, Pizzen und Co beiseite und griff zu Gemüse, Früchten und Knäckebrot. Mit 18 Jahren diagnostizierte man bei mir Magersucht und Depression. Ich war mit mir selber sehr streng, erwartete grosse Disziplin von mir und verlor jeglichen sozialen Kontakt. Es gab nur noch mich und meine Essstörung.

Als ich 2012 mit der Uni startete und ich beschloss, die Krankheit zu bekämpfen, ging es bergauf, bis ich anfing, fast jeden Abend auf dem Heimweg Glace, Schokolade, Brot, Nutella – alles, was fett und kohlenhydratreich war – zu essen. Nach sechs Monaten hielt ich es nicht mehr aus. Ich entschloss mich zu einer sechsmonatigen Pause an der Uni und machte dafür ein Praktikum bei einem Regionalfernsehsender. Seither sind drei Jahre vergangen. Ich habe wieder ein normales Gewicht, erleide aber einmal in der Woche einen Fressanfall. Ich esse jeweils, bis es mir schlecht wird. Ich habe echt Angst, dass ich erstens meinem Stoffwechsel kaputt mache, und zweitens, dass ich einmal an einem Herzinfarkt oder an einem Organversagen sterbe und dass ich übergewichtig werde.

Ich mache viel Sport. Mindestens sechs Mal in der Woche. Ich esse sehr gesund, also keine Kohlenhydrate wie Brot, Nudeln, Reis oder Kartoffeln, dafür viel Gemüse und Obst und auch Fleisch. Wenn ich einen Essanfall habe, kommen alle verbotenen Nahrungsmittel in den Mund.

Vor dem Abnehmen wog ich 60 Kilo. Während der Magersucht 37 und jetzt etwa 54 Kilo, das bei einer Grösse von 159. Ich wäge mich nicht mehr. Ich möchte einfach gerne einen normalen Essrhythmus haben, ohne schlechte Gefühle, Scham, schlechte Laune und dem Körper nicht mehr wehtun. Ich tue meinem Körper weh, und das stresst mich. Ich weiss echt nicht mehr, was machen. Ich bin verzweifelt.

So weit die Leserin. Der Schönheits- und Magerwahn treibt viele junge Menschen in die schiere Verzweiflung. Trotz vieler Lippenbekenntnisse unternehmen die Modebranche und die Werbeindustrie nur wenig oder nichts, um ein gesundes Körpergefühl und einen achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper zu fördern. Im Gegenteil: Die allermeisten der abgebildeten jungen Frauen sind medizinisch gesehen krank. Der Preis für Tausende junger Menschen ist sehr hoch. Das vorliegende Beispiel zeigt das exemplarisch.

Auf unsere Frage, ob wir ihre Geschichte veröffentlichen dürfen, schreibt sie uns folgendes: Mein grösster Wunsch ist es, dass so viele Menschen wie nur möglich nicht in einen solchen Kreislauf geraten und dass sie es früher merken. Und wenn sie, wie ich, schon mittendrin sind, sollten sie wissen, dass sie nicht alleine sind, dass es immer eine Zielgerade am Ende eines Weges gibt. Damit man weiter kommt, sollte man Frieden schliessen mit sich selber. Ich weiss, wie schwierig es ist, so zu tun, als ob alles gut geht. Ich verstecke mich nicht. Wenn meine Schilderung anderen Menschen helfen kann, wäre da für mich die grösste Ehre.

 

Das sagt Dr. phil. Batya Licht, Leiterin Fachstelle Psychotherapie, Sanatorium Kilchberg:

Die Beschreibung ist für Essstörungen sehr typisch. Häufig beginnen solche Essstörungen mit einer ganz gewöhnlichen Diät, die sich dann zu einer Magersucht entwickelt. Später kann die Magersucht in eine andere Essstörung übergehen, zum Beispiel in eine Bulimie.

Für die Magersucht ist die Einschränkung der Nahrungszufuhr typisch. Die Betroffenen versuchen möglichst wenig zu essen und auf Fett und Kohlenhydrate zu verzichten. Anfangs fühlt es sich häufig gut an: Man hat seinen Körper unter Kontrolle, man erreicht seine Ziele und bekommt Komplimente und Wertschätzung von allen Seiten. Häufig ist man anfangs auch sehr leistungsfähig, weshalb die Betroffenen sich zusätzlich bestätigt fühlen.

Auf Dauer geht das jedoch nicht gut. Der hungernde Körper ist immer mehr aufs Essen konzentriert. Menschen mit Magersucht können oft kaum noch an etwas anderes denken, sodass ein normales Leben nahezu unmöglich wird. Sie ziehen sich zurück und haben kaum mehr Zeit für anderes. Sie beschäftigen sich fast nur noch mit der Essensvermeidung und der Kalorienverbrennung. Das führt häufig zu depressiven Symptomen.

Der Versuch, mehr Kontrolle über sein Gewicht zu erlangen, wird zur Falle: die Magersucht kontrolliert das Leben der Betroffenen weitgehend, und sie haben das Gefühl, damit nicht aufhören zu können. Sie haben furchtbare Angst, wieder normal zu essen und fürchten, dadurch die Kontrolle zu verlieren und masslos zuzunehmen.

Doch dem Körper ist die Figur egal. Er tut sein Bestes, um die Hungergefahr zu überstehen. Deshalb kommt es häufig zu Heisshunger. Bei Heisshungeranfällen werden grosse Mengen an energiereicher Nahrung innerhalb kürzester Zeit gegessen beziehungsweise verschlungen. Die Betroffenen haben das Gefühl, keine Kontrolle darüber zu haben und nicht aufhören zu können. Auf Essanfälle folgen Scham, Selbstabwertung und Angst vor Gewichtszunahme. Und der Versuch, die vielen Kalorien durch Erbrechen, eingeschränktes Essen, exzessiven Sport etc. wieder loszuwerden. Das bedeutet für den Körper erneut Hunger, der wieder zu einem Heisshungeranfall führt. So entsteht ein Teufelskreis von Essanfällen und Gewichtsabnahme, was typisch für Bulimie ist. Der Übergang von Magersucht zu Bulimie oder zu Binge Eating – das sind Essattacken ohne regulierende Gegenmassnahmen – ist fliessend und kommt häufig vor. Genau diesen Prozess schildert auch die Leserin.

Doch nicht nur körperliche, sondern auch psychische Faktoren spielen bei Essstörungen eine wichtige Rolle. Häufig sind es Perfektionismus, die Angst, Fehler zu machen oder Makel zu haben, Angst vor Kontrollverlust, einseitige Selbstdefinition über die äussere Erscheinung oder die erbrachten Leistungen, Selbstwertproblematik, Probleme in der sozialen Integration, Konflikte mit dem sozialen Umfeld oder Schwierigkeiten mit dem Durchsetzungsvermögen. Zudem haben sowohl die Magersucht als auch die Bulimie eine nicht zu unterschätzende Funktion bei der Emotionsregulation, das heisst beim Umgang mit unangenehmen Gefühlen.

Was kann die Leserin dagegen tun? Im Grunde muss sie drei Verhaltensweisen ändern: Erstens sollte sie regelmäßig essen, und zwar auf den ganzen Tag verteilt. Zweitens sollte sie sich gar nichts komplett verbieten, sondern die gefürchteten und gemiedenen Nahrungsmittel wieder schrittweise zu sich nehmen. Drittens sollte sie keinen exzessiven Sport machen, um möglichst viele Kalorien zu verbrennen. Die Leserin schreibt, dass sie ihrem Körper nicht mehr wehtun möchte. Ihre Motivation ist wunderbar. Es wäre gerade darum wichtig, nicht so viel Sport zu treiben, sondern nur so viel, dass es dem Körper gut tut. Überhaupt wären für den Körper angenehme Dinge wichtig. Ein neuer Umgang mit dem Körper muss gelernt werden: nicht strafend, sondern wohltuend und wertschätzend; nicht nur auf die äussere Erscheinung fokussiert, sondern auch auf andere Dienste, die der Körper leistet, sowie auch auf seine Bedürfnisse achten.

Die Leserin muss keine Angst vor grenzenloser Gewichtszunahme haben. Sobald der Körper regelmässig und ausreichend Nahrung bekommt, nehmen die Essanfälle häufig von alleine ab. In der ersten Phase kann das Gewicht noch pendeln, nach einer Weile stabilisiert es sich häufig auf ein Normalgewicht.

Damit ist die Leserin auf den richtigen Genesungsweg. Hilfreich ist die Einsicht, dass die Figur nicht vollumfänglich unter unserer Kontrolle steht, und dass sie auch nicht das einzige Kriterium für den Wert eines Menschen ist. Weiter muss man sich unangenehmen Situationen und Gefühlen stellen und lernen, sie zu bewältigen oder zu akzeptieren, statt zu meiden.

Natürlich ist das eine grosse Herausforderung. Deshalb empfiehlt es sich sehr, sich bei Fachpersonen, Psychologen oder Psychiatern, die darauf spezialisiert sind, Hilfe zu holen. Die gute Nachricht für unsere Leserin ist: Normalgewicht, hohe Motivation und nur gelegentliche Essanfälle sprechen für eine gute Prognose. Auch eine kurze Krankheitsdauer ist ein guter prognostischer Faktor. Darum ist es wichtig, nicht zu zögern und sich möglichst früh behandeln zu lassen.