Immunprophylaxe spart Antibiotika

Chronische Harnwegsinfekte bei älteren Menschen sollte man nicht ständig mit Antibiotika behandeln. Dr. med. David A. Scheiner, Leiter Urogynäkologie am Universitätsspital Zürich, kennt Alternativen.

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Weshalb haben gerade viele Frauen ab 65 häufig chronische Harnwegsinfekte?

Durch das Nachlassen der Ovarialfunk­tion und besonders der Östrogenproduktion kommt es nach den Wechseljahren zu grundlegenden Veränderungen des Scheidenmi­lieus. Die Schleimhaut wird atrophisch, das heisst dünner und anfälliger. Die Besiedlung mit Milchsäurebakterien, welche als Platzhalter dienen, geht zurück. Das begünstigt den Befall des Scheidenvorhofs mit pathologischen Bakterien wie E. Coli. Zudem steigt der pH-Wert. Dazu gesellen sich weitere Risikofaktoren, die mit dem Alter zusammenhängen, zum Beispiel Beckenbodenschwäche mit Harninkontinenz. Blasenentleerungsstörungen können zu erhöhten Restharnmengen führen, die wiederholte Infekte begünstigen. Generell erhöht die weibliche Anatomie mit kurzer Harnröhre und enger Nachbarschaft von Anus zu Urethra das Risiko von Harnwegsinfektionen.

Welche Rolle spielt dabei das Darmbakterium E. Coli?

Krankmachende E. Coli sind die häufigsten Erreger von Harnwegsinfektionen. Harnwegsinfekte mit E. Coli machen 75 bis 90 Prozent aller Fälle aus. Diskutiert werden verschiedene Theorien. Eine geht davon aus, dass die Bakterien in die Zellen der Blasenschleimhaut eindringen, dort verbleiben und so die rezidivierenden Infekte verursachen.

Kann man rezidivierende Harnwegsinfekte mit Antibiotika heilen?

Man kann den einzelnen Harnwegsinfekt antibiotisch behandeln und ihn dadurch praktisch immer heilen. Wiederkehrende Harnwegsinfekte kann man ebenfalls antibiotisch behandeln. Spätestens jetzt sollte ein Harnwegsinfekt jedoch nicht mehr blind, sondern erst nach Austesten des Urins, das heisst je nach verantwortlichem Erreger und seiner Resistenzlage behandelt werden. Man kann mit Antibiotika sogar eine Dauerprophylaxe machen, wenn die Infektionen immer wieder kommen. Trotz dieser Langzeitantibiose, die über mehrere Monate bis sogar Jahre dauern kann, werden nicht alle Frauen geheilt. Es können wieder Infektionen auftreten, entweder, weil die Bakterien in der Zwischenzeit resistent auf die Antibiotika geworden sind, oder durch neue Keime. Sogar noch während der Antibiotika-Therapie kann es zu einem Infekt kommen, der eine Umstellung der antibiotischen Langzeittherapie erfordert.

Weshalb ist eine wiederholte Gabe von Antibiotika problematisch?

Es gibt zwei Probleme, nämlich Nebenwirkungen und die Resistenzbildung. Nebenwirkungen spürt man relativ schnell, seien dies Übelkeit, Durchfall oder Pilzinfektionen – aufgrund der veränderten Scheidenflora. Auch Allergien auf Antibiotika sind möglich. Das Hauptproblem ist jedoch die weltweite Zunahme von multiresistenten Keimen. Der Anteil von Problemkeimen betrug im Jahr 2005 noch 1,7 Prozent im Raum Zürich. 2012 waren es schon 4,3 Prozent. Eine Resistenz kann sich schon Wochen nach einer antibiotischen Dauerprophylaxe entwickeln.

Wann ist bei Harnwegsinfekten der Zeitpunkt gekommen, an andere Massnahmen zu denken?

Spätestens dann, wenn sie rezidivieren, das heisst, bei zwei Harnwegsinfektionen in den letzten sechs Monaten oder drei innerhalb eines Jahres. Einerseits zur Prophylaxe, andererseits aber allein schon um den Antibiotikagebrauch zu reduzieren und damit die Resistenzbildung zu verhindern.

Man hört in diesem Zusammenhang viel von der oralen Immunprophylaxe. Was muss man darunter verstehen?

Zur Behandlung wiederkehrender Harnwegsinfektionen gibt es eine orale immunoaktive Prophylaxe. Sie stimuliert die zelluläre und humorale Immunität. Dadurch wird die lokale Immunantwort der Harnwege verstärkt. Es ist eine Art Schluckimpfung, die aus hitzeabgetöteten Stämmen von E. Coli besteht. Die Wirksubstanzen treten im Dünndarm mit den immunkompetenten Zellen in Kontakt, wodurch das Immunsystem stimuliert wird.

Welche Resultate zeigt die Immunprophylaxe bezüglich Zahl der Infektionen und Einsparung von Antibiotika?

Die Überlegenheit dieser Therapie gegenüber Placebo ist in mehreren randomisierten, kontrollierten Studien gut belegt. In einer Untersuchung mit postmenopausalen Frauen zeigte sich eine Reduktion der Anzahl Harnwegsinfekte um 65 Prozent. Ausserdem hat die Immunprophylaxe ein gutes Sicherheitsprofil.

Erfüllt die Immunprophylaxe die geltenden ­Richtlinien?

Die Immunprophylaxe wird in den Guidelines der European Association of Urology bei Frauen mit rezidivierenden unkomplizierten Harnwegsinfektionen empfohlen. Die Empfehlung entspricht einem Level of evidence 1a. Das ist die höchste Stufe auf Basis methodisch hochwertiger randomisierter, kontrollierter wissenschaftlicher Studien.

Welche anderen Massnahmen sind noch empfehlenswert, um chronische Harnwegsinfekte zu verhindern?

Die aktuellen Guidelines zur Behandlung rezidivierender Harnwegsinfekte fördern sowohl Prävention als auch die Therapie. Die antibiotische Langzeitprophylaxe soll überdacht und alternative, präventive Massnahmen geprüft werden. Dazu gehören der Einsatz von lokalem Östrogen in der Vagina sowie die Einnahme von Probiotika. Wichtig ist aber auch die Suche nach Risikofaktoren wie Restharn, Harnsteinen, anatomische Anomalien oder Tumoren.

 

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Dr. med. David A. Schreiner, Leiter Urogynäkologie am Universitätsspital Zürich

Machen Sie den Check

In folgenden Situationen ist eine orale Immunprophylaxe in Erwägung zu ziehen. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt.

  • Ich habe mindestens zwei Harnwegsinfekte in den letzten sechs Monaten oder drei Harnwegsinfekte in den letzten zwölf Monaten gehabt.
  • Als Erreger meiner Blasenentzündungen konnte das Bakterium E. Coli nachgewiesen werden.
  • Vaginal eingeführte Östrogen-haltige Creme oder Zäpfchen helfen mir auch nach drei Monaten nicht weiter, oder ich darf sie aus medizinischen Gründen nicht anwenden.
  • Ich möchte bei einer akuten Blasenentzündung die antibiotische Behandlung zusätzlich mit einem Medikament unterstützen.
Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 30.06.2016.

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