In der Nacht ist es am schlimmsten

Carpaltunnelsyndrom

Eine vierzigjährige Frau hat seit einigen Monaten immer häufiger Schmerzen der rechten Hand und des rechten Arms. Diese traten zuerst nur hin und wieder auf, doch in den letzten Wochen sind sie heftiger geworden und wollen nicht mehr verschwinden. Tagsüber geht es der Patientin meistens gut, aber in der Nacht kommen die Schmerzen und werden so intensiv, dass sie kaum mehr durchschlafen kann. Neben den Schmerzen bemerkt die Leserin, dass der Daumen und der Zeigefinger taub werden. Durch intensives Schütteln der Hand kann sie die Schmerzen etwas bändigen, sodass sie wieder einschlafen kann. Mittlerweile ist sie total übernächtigt und fühlt sich extrem müde. Kommt dazu, dass die rechte Hand an Kraft verliert und dass der Leserin deswegen immer häufiger Gegenstände aus der Hand fallen. Was ist der Grund für diese Beschwerden und was ist zu tun?

Einklemmung Mittelnerv am Handgelenk

Das Krankheitsbild mit nächtlichen Schmerzen von Hand und Arm und mit einer zunehmenden Schwäche der Hand ist die häufigste neurologische Krankheit. „Ursache ist eine Einklemmung des Mittelnervs am Handgelenk, wo er durch eine enge Passage zieht, die der Mediziner Carpaltunnel nennt“, erklärt Prof. Kai Rösler vom Neurozentrum Basel und der Universität Bern „Ist der Nerv stark eingeengt, leitet er die Nervenimpulse nicht mehr richtig zu den Muskeln des Daumenballens. Die Muskeln werden schwächer, es kommt zur Lähmung. Auch das Gefühl am Daumen und an Zeige- und Mittelfinger wird schlechter, es besteht eine Taubheit.“ Durch den Verlust des Fingerspitzengefühls hat der oder die Betroffene Mühe mit feinen Tätigkeiten der Hand, zum Beispiel beim Ergreifen kleiner Gegenstände wie Münzen und Hemdknöpfe oder beim Schreiben. Schliesslich verursacht die Einklemmung des Nervs Schmerzen. „Warum sie besonders in der Nacht auftreten, ist nicht bekannt“, sagt Prof. Rösler. Es ist aber so typisch, dass die Krankheit davon ihren zweiten Namen erhalten hat: „Brachialgia paraesthetica nocturna“ bedeutet nichts anderes als „Nächtliche Armschmerzen mit Einschlafen der Hand“.

Meistens Menschen in handwerklichen Berufen betroffen

Die Leserin ist Service-Angestellte und das Carpaltunnelsyndrom führt dazu, dass sie ihren Beruf kaum mehr ausüben kann. Sie wird von ihrem Hausarzt zwei Wochen krankgeschrieben. In dieser Zeit nehmen die Beschwerden ein wenig ab – aber sie beginnen unvermindert von neuem, nachdem sie die Arbeit wiederaufnimmt. Prof. Rösler: „Der Zusammenhang zwischen manueller Arbeit und einem Carpaltunnelsyndrom ist typisch. Betroffen sind meistens Menschen, die in handwerklichen Berufen arbeiten, zum Beispiel Näherinnen, Küchenangestellte, Sekretärinnen, Chirurginnen. Besonders bei Frauen, bei denen die Hände und damit auch der Carpaltunnel kleiner sind als bei Männern, kommt das Carpaltunnelsyndrom häufig vor.“ Auch in der Schwangerschaft tritt es oft auf: Hier ist es nicht die Enge des Nervendurchtritts, die zur Einklemmung führt, sondern die Wassereinlagerung der Gewebe, die im engen Durchtritt zu wenig Platz für den Nerv lässt.

Wie kann es dazu kommen, dass ein früher genügend grosser Nervendurchtritt irgendwann zu eng wird und damit zu Beschwerden führt? „Der Carpaltunnel ist von Knochen und Knochengelenken umgeben. Beim Älterwerden ist es normal, dass es an den Gelenken zu Abnützungserscheinung kommt, die zu Anlagerung von Knochengewebe führen“, erklärt Prof. Rösler. „Die Gelenke ragen dadurch ein wenig mehr in den Carpaltunnel hinein und verursachen eine Enge. Durch den Carpaltunnel ziehen auch einige Sehnen hindurch, welche dazu dienen, die Finger zu krümmen, zum Beispiel zum Ergreifen von Gegenständen.“ Sind diese Sehnen durch übertriebene Handarbeit gereizt, können sie sich entzünden. Die Schwellung führt dann dazu, dass es im Carpaltunnel zu wenig Platz hat. Es gibt aber auch Patienten, bei denen die Nerven generell empfindlicher auf Druck reagieren. Ältere Menschen leiden häufig unter Polyneuropathien. Das sind Krankheiten, die alle Nerven des Körpers angreifen. Besonders häufig treten sie als Komplikation bei Diabetes auf. Ist eine Polyneuropathie stark ausgeprägt, führt sie zu Lähmungserscheinungen am gesamten Körper. Zu Beginn einer Polyneuropathie ist das noch nicht der Fall, doch sind die Nerven allgemein anfälliger auf Störungen wie zum Beispiel die Druckzunahme im Carpaltunnel.

Einsatz von Ultraschall zur Diagnose

Bei der Patientin stellt der Neurologe die typischen Befunde eines Carpaltunnelsyndroms fest: einen Gefühlsverlust von Daumen, Zeige- und Mittelfinger, sowie eine leichte Lähmung der Muskeln des Daumenballens. Beim Beklopfen des Nervs über dem Handgelenk kommt es zu Schmerzen, die in die Finger ausstrahlen. Um die Diagnose zu bestätigen, misst er den Nerven elektrisch aus. Bei der Elektro-Neurographie wird der Nerv mit kleinen und ungefährlichen Stromimpulsen gereizt und die Geschwindigkeit der Fortleitung dieser Reize entlang des Nervs gemessen. Prof. Rösler: „Ist der Nerv eingeklemmt, leitet er langsamer, was sich mit der Elektro-Neurographie einfach feststellen lässt. Es kann auch eine Aussage gemacht werden, ob diese Verlangsamung tatsächlich im Carpaltunnel stattfindet oder nicht.“ Um sicher zu sein, dass keine Polyneuropathie vorliegt, misst der Neurologe neben dem eingeklemmten Mittelnerven auch den Ellennerv und einen Nerv am Bein. Die Messergebnisse dieser beiden Nerven sind normal, sodass eine Polyneuropathie ausgeschlossen werden kann. Mehr und mehr wird heute zur Diagnose des Carpaltunnelsyndroms auch der Ultraschall eingesetzt. Mit dem Ultraschallgerät kann der Carpaltunnel und der darin liegende Mittelnerv sichtbar gemacht werden. Der Arzt kann also sehen, ob der Nerv tatsächlich eingeengt ist.

Manchmal hilft nur Operation

Als erste Behandlung verschreibt der Neurologe der Patientin eine Handgelenkschiene für die Nacht. Dadurch soll das Handgelenk einige Stunden lang stillgelegt werden, was zu einem Beschwerderückgang führen kann. Im vorliegenden Fall nützt diese Massnahme nicht richtig. Kaum arbeitet sie wieder, kommt es erneut zu Schmerzen und Einschlafen der Finger. Nur eine Operation kann in dieser Situation zur Besserung führen. „Der Hand- und Nervenchirurg erweitert den Carpaltunnel dadurch, dass er ein Sehnenband durchtrennt, welches den Carpaltunnel nach oben begrenzt“, erklärt Prof. Rösler. Die etwa dreissigminütige Operation wird in einer chirurgischen Tagesklinik unter Lokalanästhesie durchgeführt: Noch am selben Abend kann die Patientin wieder nach Hause gehen. Handchirurgen bezeichnen diesen Eingriff als „erfolgreichste aller Operationen“, weil er schnell durchzuführen ist und nur ganz selten zu Komplikationen führt. Prof. Rösler: „Ist ein Carpaltunnelsyndrom einmal diagnostiziert worden und ist ein gewisser Einklemmungsgrad erreicht, sollte die Operation nicht zu lange hinausgezögert werden, denn mit der Zeit leidet der eingeklemmte Nerv immer mehr. Nervenfasern sterben ab, und dadurch können die Heilungschancen schlechter werden.“ Bei unserer Leserin fand die Operation noch rechtzeitig statt. Schon unmittelbar nach dem Eingriff sind die Schmerzen und das Einschlafgefühl der Finger verschwunden. Nach zehn Tagen wurden die Fäden gezogen und vierzehn Tage nach der Operation konnte sie wieder vorsichtig ihre Arbeit aufnehmen.

Kontakt:

Neurozentrum Basel, Tel. 061 205 29 50, E-Mail: [email protected]