Die Therapien gegen Multiple Sklerose werden immer wirksamer, individueller und besser verträglich. Umso wichtiger ist ein möglichst früher Behandlungsbeginn.
Bei der Behandlung von Multipler Sklerose, der häufigsten zu Behinderungen führenden neurologischen Erkrankung junger Erwachsener, hat eine neue Ära begonnen. Eine Vielzahl von neuen Wirkstoffen befindet sich in der fortgeschrittenen klinischen Prüfung, einige Präparate sind bereits in verschiedenen Ländern zugelassen. Die Zulassungsstudien versprechen für die Zukunft bessere Möglichkeiten, für Patienten Präparate individuell auszuwählen.
Prof. Dr. Michael Linnebank, Leiter MS-Klinik, Universitätsspital Zürich, bestätigt, dass wichtige Innovationen unmittelbar bevorstehen: „Wir verstehen die bereits vorhandenen Medikamente zunehmend besser und können sie gezielter als früher einsetzen. Für die nahe Zukunft wird die Zulassung einer neuen Infusionstherapie und zweier oraler Medikamente erwartet. Deren Eigenschaften unterscheiden sich von den vorhandenen Präparaten, sodass die Therapie der MS immer individueller wird. Sollten die neuen Präparate zugelassen werden, wird es künftig grosse Auswahlmöglichkeiten geben. Kriterien zur individuellen Medikamentenwahl sind Unterschiede der Präparate in Wirksamkeit, Sicherheit, Verträglichkeit und Komfort. Beispielsweise stehen bei Patienten mit einer hochaktiven Multiplen Sklerose andere Kriterien im Vordergrund als bei Patientinnen mit aktuell mildem Krankheitsverlauf, aber Schwangerschaftswunsch. Und während einige Patienten eine vor allem hochwirksame Therapie wünschen, sind für andere die Sicherheit der Therapie oder der Komfort vielleicht wichtiger.“
Die Behandlung wird viel individueller, aber auch anspruchsvoller, vor allem für den Arzt. Sie setzt eine grosse Erfahrung und sehr viel Wissen voraus. Braucht es angesichts dieser Innovationen überhaupt noch die klassischen Spritzenpräparate zur Behandlung der Multiplen Sklerose? „Ja.“, ist Prof. Linnebank überzeugt. „Mit den Spritzenpräparaten existiert sehr viel Erfahrung. Diese Medikamente führen bei einem Teil der Patienten zu einer guten Krankheitskontrolle und sind weitgehend sicher. Auch scheint die Behandlung bis zum Beginn einer Schwangerschaft in der Regel vertretbar, während die meisten anderen Präparate vor dem Versuch, schwanger zu werden, abgesetzt werden müssen. Die meisten Patienten, die bereits mit diesen Medikamenten behandelt sind und gut damit zurechtkommen, werden die Therapie auch künftig fortsetzen. Und auch in Zukunft werden sich manche noch unbehandelte Patienten für diese Therapien entscheiden.“
Eine frühzeitige, effiziente Therapie verlangsamt das Fortschreiten von MS. Zudem scheint die Wirksamkeit der Medikamente in den ersten Jahren der Behandlung sogar noch zuzunehmen, sodass viele Patienten für lange Zeit eine gute Lebensqualität haben. PD Linnebank ist zuversichtlich, dass die Anzahl der MS-Betroffenen, die im privaten und beruflichen Leben deutliche Einschränkungen hinnehmen müssen, in Zukunft weiter abnimmt. Die grösste Herausforderung für zukünftige Therapien sieht der Leiter der MS-Klinik am Universitätsspital Zürich hinsichtlich des späten Krankheitsstadiums, in dem es oft zu einer sogenannten sekundär chronischen Progredienz kommt: „Die Schübe werden weniger oder hören auf, aber die Behinderungen schreiten nun kontinuierlich voran. Soweit bisher bekannt, ist die Wirksamkeit der Therapien in diesem Stadium gering. Ob und wie stark neue Medikamente hier möglicherweise helfen werden und wie weit dieses Stadium durch Medikamente herausgezögert werden kann, lässt sich zurzeit noch nicht abschliessend beantworten.“
Was erwartet die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft von den neuen Therapien? „Sie werden eine zunehmend individuelle Behandlung erlauben, welche die Lebenssituation der MS-Betroffenen viel stärker berücksichtigt“, sagt Susanne Kägi, Bereichsleiterin MS-Infozentrum. „Bei ungenügender Wirkung oder bei belastenden Nebenwirkungen der bestehenden Medikamente eröffnen die neuen Mittel dank ihrer unterschiedlichen Wirkmechanismen zusätzliche Therapieoptionen. Die Behandlung wird dadurch aber auch komplexer, was die Spezialisierung der Fachärzte noch mehr vorantreibt.“
Ein Schlüssel für eine erfolgreiche Langzeittherapie ist eine möglichst gute Therapietreue, Adhärenz genannt. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation erreicht im Schnitt nur rund die Hälfte der Patienten mit chronischen Krankheiten eine gute Adhärenz. Fast die Hälfte der MS-Patienten mit den bestehenden Immuntherapien bricht ihre Behandlung innerhalb der ersten zwei Jahre ab. Das hat nicht nur weitereichende Folgen für die Gesundheit der Patienten, sondern verursacht auch immense Kosten. Wichtigste Gründe für eine schlechte Therapietreue sind Angst vor Nebenwirkungen und eine falsche Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses eines Medikamentes. Bei MS wirkt sich eine geringe Adhärenz besonders nachteilig aus. Therapietreue Patienten erleiden seltener schwere Krankheitsschübe, die eine Notfallversorgung oder eine Hospitalisation erfordern und die Behinderung verschlimmern.
Eine Befragung von 1120 Patienten mit MS zeigt, wie gross die Erwartungen der Patienten an neue Medikamente sind. Die Kernaussagen der Befragung: Trotz der jüngsten Fortschritte bei der Behandlung macht MS den Betroffenen immer noch sehr viel Angst. Drei von vier Befragten geben an, sie fürchten sich stark oder sogar sehr stark vor einer Verschlimmerung der Krankheit. Ein beträchtlicher Teil der Patienten klagt über Nebenwirkungen. Unterschiede zwischen der bestehenden oralen Anwendungsform und den Interferon-Präparaten bestehen kaum. Zudem hat ein hoher Prozentsatz der Patienten ausgesprochen Angst vor den Risiken der heute verfügbaren Therapien. Auffallend ist, dass vor allem die orale Therapie, das heisst die Tabletten, als deutlich riskanter eingestuft werden als die Injektions- und Infusionsbehandlung. Der Wunsch nach neuen, individuellen, auf den einzelnen Patienten massgeschneiderten Therapien, welche die Krankheitsaktivität stoppen oder zumindest massgeblich verringern können, wenig aufwändig sind und kontrollierbare Risiken haben, ist enorm.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems mit unterschiedlichem Verlauf. Dabei zerstören körpereigene Immunzellen die Schutzschicht der Nervenfasern oder die Nervenfasern und Nervenzellen selbst. Die Folgen reichen von körperlichen Behinderungen und Müdigkeit bis hin zu intellektuellen Beeinträchtigungen. Weltweit sind ungefähr 2.5 Millionen Menschen an MS erkrankt. In der Schweiz rechnet man mit 10’000 Patienten. Rund 85 Prozenten der Betroffenen leiden unter einer schubförmigen MS. Die Krankheit beginnt meistens im jungen und mittleren Erwachsenenalter und kann über Jahre zu mehr oder weniger ausgeprägten Behinderungen führen. Trotz enormer Fortschritte in Diagnose und Therapie sind die auslösenden Ursachen der MS nach wie vor nicht im Detail bekannt.
Bei der Multiplen Sklerose sind eine frühzeitige Diagnose und ein rascher Beginn der Therapie notwendig, um ein Fortschreiten der Erkrankung möglichst effizient zu bremsen. Da MS meistens mit einer relativ gering ausgeprägten Symptomatik beginnt, sollte man bei Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, deren einseitige Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen, Gangstörungen oder Beeinträchtigung der Bewegungen nicht anders erklärt sind, an Multiple Sklerose denken. Verdächtig sind auch diffuse Frühsymptome wie Blasenstörungen, unerklärbare Müdigkeit sowie intellektuelle Veränderungen. Eine neurologische Untersuchung ist in solchen Fällen sinnvoll.