Jede Impfung stärkt die Immunabwehr

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Für viele ist Impfen ein Reizwort. Können Sie als langjähriger Chefarzt eines grossen Kinderspitals die verbreitete Impfkritik ­verstehen?

Verstehen ja, akzeptieren nein.

Wie ist die Impfmüdigkeit zu erklären? Es gibt doch objektiv gesehen kaum eine grössere Errungenschaft in der Geschichte der Medizin als das Impfen.

Impfungen sind tatsächlich die erfolgreichste Massnahme der Medizin. Für mich bedeutet Impfmüdigkeit Zerfall der Impfmoral. Insbesondere die hartnäckig zirkulierenden Impfmythen – also irreführende Gerüchte betreffend Nebenwirkungen der Impfungen – und die fehlende Sichtbarkeit der zu verhütenden Krankheit erklären die Impfmüdigkeit.

Ist die verbreitete Impfskepsis womöglich ein Wohlstandsphänomen? In Entwicklungsländern sterben Tausende von Kindern an Krankheiten, nur weil das Geld für genau jene Impfstoffe fehlt, die man bei uns verschmäht.

Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Impfskepsis und Impfkritik in Entwicklungsländern weitgehend fehlen. Dort sind eben diese Krankheiten noch allgegenwärtig und der Schutz der Gemeinschaft, der von den Impfungen ausgeht, hat noch mehr Bedeutung.

Wird beim Impfen tatsächlich das Immunsystem geschwächt? Oder anders gefragt, ist es wirklich besser, wenn jemand all diese Kinderkrankheiten selber durchmacht?

Von einer Schwächung des Immunsystems durch Impfungen kann keine Rede sein. Jede Impfung trainiert und stärkt die Immun­abwehr genauso wie die Krankheit.

Erklären Sie bitte nochmals genau, was beim Impfen geschieht.

Die Impfung macht genau das Gleiche wie die Krankheit; sie baut die gegen die Krankheit gerichtete Immunabwehr auf – mit dem riesengrossen Unterschied, dass der Impfling im Gegensatz zum Patienten nicht krank wird und somit auch keine möglichen Komplikationen und Schäden erleidet.

Kann Impfen Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Autismus auslösen?

Diese beiden Beispiele gehören zu den hartnäckigsten Dauerbrennern der Impfmärchen, obwohl diese Zusammenhänge wiederholt und eindeutig widerlegt wurden.

Gegen welche Kinderkrankheiten bzw. Krank­heiten sollte man sich unbedingt impfen lassen und ­weshalb?

Ich empfehle die Einhaltung des Schweizerischen Impfplans, der jedes Jahr überarbeitet wird und alle neuesten Erkenntnisse berücksichtigt. Im Kindesalter sind dies zurzeit Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten, Kinderlähmung, Masern, Mumps, Röteln, Hepatitis B, humane Papillomaviren, Varizellen und die drei wichtigsten Erreger der eitrigen Hirnhautentzündung – Haemophilus influenzae Typ b, Pneumokokken und Meningokokken. Bei allen diesen Krankheiten lässt sich durch die Impfung sehr viel Leid vermeiden.

Was sagen Sie Eltern, die Ihr Kind nicht gegen ­Masern impfen lassen möchten?

Ich weise auf die möglichen, teils schweren Komplikationen von Masern hin und erwähne die folgenschweren Masernausbrüche bei nichtgeimpften Personen, die wir in den letzten Jahren in der Schweiz, in Europa und in Amerika erleben mussten.

Und gegen Mumps?

Die Argumente sind die gleichen.

Wie hat sich die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs bewährt?

In vielen Ländern – so auch in der Schweiz – zeigen sich die zu erwartenden Rückgänge der Fälle von Genitalwarzen und Gebärmutterhalskrebs.

Welche Impfung muss man noch erfinden?

Die wichtigsten infektiösen Geisseln in unserer Welt sind verschiedene Erreger von Lungenentzündung und Durchfall sowie von Malaria, Tuberkulose und AIDS. Mit entsprechenden Fortschritten dürfen wir rechnen.

 

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Prof. Urs B. Schaad, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Universitäts-Kinderspitals beider Basel

 

Starker Rückgang der Todesfälle

«Masern sind eine harmlose Kinderkrankheit», heisst es auf einer Webseite für klassische Homöopathie einer Schweizer Ärztin. Es folgen die abstrusesten Behauptungen. Die Krankheit werde mit den Komplikationen verwechselt. Komplikationen liessen sich vermeiden, wenn Kinderkrankheiten wie Masern homöopathisch begleitet würden. Kinder mit durchgemachten Masern würden selbständiger, Stottern und Bettnässen verschwinden, allergische Krankheiten ausheilen und so weiter.

Impfkritiker verbreiten Angst und Schrecken

Die Impfkritiker überbieten sich mit Schauermärchen und machen genau das, was sie den Fachleuten vorwerfen, nämlich Angst und Schrecken verbreiten. Die Verunsicherung führt so weit, dass eine Mutter in St. Gallen nach einem Masernausbruch an einer Schule ihr Kind lieber drei Wochen zu Hause behält und so ein Sitzenbleiben riskiert als wie vom Kantonsarzt dringend empfohlen das Kind gegen Masern impfen lässt.

Bei Masern handelt es sich um eine sehr ansteckende Krankheit, die sich durch Tröpfchen überträgt, schreibt das Bundesamt für Gesundheit. Entgegen einer verbreiteten Meinung betrifft sie nicht ausschliesslich Kinder, sondern kann in jedem Alter auftreten. Für eine Ansteckung reicht es bereits, wenn eine infizierte Person hustet oder niest – schon vier Tage vor Erscheinen der typischen roten Flecken.

In rund 10 Prozent der Fälle führen Masern zu ernsthaften Komplikationen, die teilweise einen Spitalaufenthalt zur Folge haben. Am häufigsten sind Mittelohr- und Lungenentzündungen, seltener kommt es zu einer Hirnentzündung. Bei Erwachsenen und Säuglingen sind die Komplikations- und Hospitalisierungsraten höher als bei Kindern. Trotz bester ärztlicher Versorgung in Europa verläuft die Krankheit bei einer von 3000 Personen tödlich. Wenn sich Schwangere anstecken, besteht das Risiko einer Fehlgeburt.

Wer geimpft ist, schützt nicht nur sich selbst

Masern verursachen auch in der Schweiz immer wieder Epidemien und können dies bei ungenügender Durchimpfung in Zukunft weiter tun. Zudem werden zahlreiche Infektionen aus der Schweiz in Drittweltstaaten oder Länder eingeschleppt, die fast oder ganz masernfrei sind. In den letzten 15 Jahren hat die Zahl der Masern-Todesfälle dank Impfungen um 79 Prozent abgenommen. Wer geimpft ist, schützt nicht nur sich selbst. Er oder sie trägt auch zum Schutz von Menschen bei, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können. Dazu zählen Säuglinge unter sechs Monaten, Personen mit geschwächtem Immunsystem oder nichtimmune Schwangere, bei denen ein erhöhtes Komplikationsrisiko besteht.

Die Impfung schützt die meisten vollständig geimpften Menschen ein Leben lang. Zwei Dosen sind notwendig, weil die erste Dosis bei 1 bis 10 Prozent der geimpften Personen noch keine ausreichende Immunantwort auslöst.