Kampf dem Schmerz – eine Anleitung

Schmerzen wp

Schmerzen begleiten viele Menschen Jahre oder sogar Jahrzehnte. Dass Schmerzen möglichst früh und möglichst umfassend behandelt werden müssen, ist unbestritten. Viel weniger bekannt ist, dass die Betroffenen selber etwas gegen ihre Schmerzen unternehmen können. Oder sollte man es vielleicht sogar so formulieren: etwas mit den Schmerzen zusammen unternehmen können? Genau hier möchte ich ansetzen und Denkanstösse vermitteln, die ich durch die jahrzehntelange Begleitung von Schmerzpatienten gewonnen habe. Probieren Sie die Tipps einfach aus, auch wenn sie Ihnen auf den ersten Blick etwas gar seltsam erscheinen mögen.


Schritt 1: Tun Sie dem Schmerz nicht weh!

Wahrscheinlich werden Sie schon jahrelang von Schmerzen geplagt. Ihre Aktivitäten, Ihr Berufsleben, die Freizeit, Sie selber und die ganze Familie leiden darunter. Sie haben allen Grund, auf Ihre Schmerzen wütend zu sein und sie zu verwünschen. Es ist auch nur zu verständlich, dass Sie versuchen, Ihre Peiniger mit allen Mitteln zu bekämpfen und loszuwerden. Womöglich stecken Sie Ihre gesamte Energie in den Kampf gegen die Schmerzen.

Nur, je mehr Zeit und Energie Sie in diesen Kampf investieren, desto mehr setzen sich die Schmerzen in Ihrem Leben fest. Terror erzeugt Gegenterror. Sie können machen, was Sie wollen. So schnell räumen die Schmerzen nicht das Feld. Deshalb mein Vorschlag: Auch wenn Sie von Ihren Schmerzen terrorisiert werden, machen Sie doch ab sofort das pure Gegenteil von dem, was Sie in den vergangenen Jahren getan haben. Sie müssen Ihre Schmerzen nicht gern haben. Das verlangt nun wirklich niemand. Aber hören Sie auf, ihnen wehzutun. Sie sind nun einmal da, basta. Versuchen Sie ab jetzt, daran nichts ändern zu wollen, vorerst wenigstens. Je weniger Sie sich mit den Schmerzen abgeben, desto langweiliger wird es Ihren Peinigern. Schmerzen haben die Eigenschaft, sich wie pubertierende Jungs zu verhalten. Auf Druck und Zurechtweisung reagieren Sie mit Rebellion, nur um zu beweisen, dass es sie noch gibt.


Schritt 2: Geben Sie dem Schmerz einen Namen!

Den Schmerz erleben viele Menschen vor allem deshalb als vernichtend, weil er wie eine namenslose Bestie seine Opfer anfällt und nicht mehr von ihnen ablässt. Nichts ist schlimmer als ein Ungeheuer, das sich in der Anonymität versteckt und zuschlägt, wann und wo es will. Besonders diese Unberechenbarkeit und das Gefühl, den Schmerzen hilflos ausgeliefert zu sein, machen krank.

Die Schmerzen sind ein Teil von Ihnen, wie stark sie auch sein mögen. Sie sind weder Schicksal noch kommen sie von irgendwoher. Sie stammen nur von Ihnen. Was heisst das nun? Hören Sie auf, Ihre Schmerzen als einen fremden Eindringling zu behandeln. Freunden Sie sich mit ihnen an. Geben Sie ihnen einen Namen und einen definierten Platz in Ihrem Leben, auch wenn Ihnen das auf Anhieb schwerfällt, was nichts als verständlich ist. Alles, was einen Namen bekommt, verliert an Bedrohlichkeit. Nur was einen Namen hat, können Sie beim Namen nennen und an die Hand nehmen. Lassen Sie bei der Namensnennung Ihrer Fantasie freien Lauf, und haben Sie keine Hemmungen, auch Schimpfwörter zu verwenden, am Anfang wenigstens. Vielleicht benötigen Sie schon nach kurzer Zeit einen zweiten, weniger abwertenden Begriff für Ihre Schmerzen, weil sich der Umgang mit ihnen bereits verändert hat.


Schritt 3: Sprechen Sie mit Ihren Schmerzen!

Jetzt, wo Sie Ihre Schmerzen als Teil von Ihnen erkannt und akzeptiert und ihnen einen Namen gegeben haben, können Sie sich mit ihnen auseinandersetzen, ohne Angst haben zu müssen, dass Ihnen dabei etwas zustösst. Führen Sie diese Auseinandersetzung möglichst konkret. Reden Sie mit Ihren Schmerzen. Sagen Sie all das, was Sie schon längst Ihren Schmerzen haben sagen wollen. Fassen Sie Ihre Wut, Ihre Ohnmacht und alle anderen Gefühle, die sich über die Jahre aufgestaut haben, in Worte. Zwingen Sie die Schmerzen, Ihnen zuzuhören. Lassen Sie zwischendurch auch Ihre Schmerzen zu Wort kommen. Wenn Ihnen der laute Dialog mit Ihren Schmerzen nicht zusagt, schreiben Sie Ihren Schmerzen Briefe. Oder malen Sie Ihren Schmerz, mit den Farben, nach denen Ihnen zumute ist. Oder geben Sie Ihren Schmerzen eine Gestalt, mit Ton, Gips oder Holz. Wichtig ist, dass Sie die Schmerzen zwingen, aus der Anonymität herauszutreten und sich Ihnen zu stellen. Nur wenn die Schmerzen fassbar werden, können sie mit ihnen leben lernen. Sonst bleibt der Umgang mit den Schmerzen ein leeres Wort.


Schritt 4: Sagen Sie dem Schmerz, wo’s langgeht!

Ihre Schmerzen sind immer noch da. Aber sie machen vielleicht nicht mehr so fest weh. Sie sind auch nicht mehr so bedrohlich und vernichtend wie noch zu Beginn. Sie reden mit Ihren Schmerzen oder haben ihnen Gestalt verliehen. Gehen Sie jetzt noch einen Schritt weiter. Sagen Sie dem Schmerz, was er tun und lassen soll. Geben Sie den Ton an. Vorher war der Schmerz der Täter, der Dieb, der Ihnen Lebensqualität gestohlen hat. Sie das Opfer. Jetzt ist es umgekehrt. Geben Sie ihm aber nicht eins zu eins mit gleicher Münze zurück. Lassen Sie Milde walten. Lassen Sie dem Schmerz noch ein wenig Raum und Zeit, vorerst wenigstens. Sagen Sie ihm aber auch, wann er nichts mehr zu suchen hat. Und lassen Sie ihn klar und deutlich wissen, dass Sie wegen ihm auf nichts mehr verzichten. Dass Sie wegen ihm keine Termine mehr absagen, dass Sie Ihrer Arbeit nachgehen und Ihre Freundschaften pflegen, ganz gleichgültig, wie rücksichtsvoll oder rücksichtslos er sich benimmt. Ihr Schmerz muss wissen, dass er von jetzt an nur noch die zweite Geige spielt.


Schritt 5: Reden Sie nicht mehr vom Schmerz!

Sie haben mit dem Schmerz schon beinahe einen kumpelhaften Umgang gefunden. Manchmal ist er ein guter, manchmal ein schlechter Kumpel. Sie reden mit ihm, als würden Sie ihn schon lange kennen. Manchmal verlieren Sie ihn sogar aus den Augen und denken nicht mal mehr an ihn. Ihnen ist wieder anderes im Leben wichtiger geworden. Lassen Sie das auch Ihre Familie, Ihren Partner, Ihre Berufskollegen und Freunde wissen, und sagen Sie ihnen, dass Sie nicht mehr als Schmerzpatient wahrgenommen und angesprochen werden wollen. Reden Sie, wenn Sie mit anderen Menschen zusammen sind, nicht mehr über den Schmerz, sondern über alles andere auf der Welt. Machen Sie einen radikalen Schritt: Untersagen Sie Ihren Bekannten und Freunden zu fragen, wie es Ihnen mit den Schmerzen geht. Ihr Leben ist ja nicht mehr vom Schmerz bestimmt. Sie sind ab sofort wieder ein Mensch wie jeder andere, mit den gleichen Interessen und Vorlieben, mit den gleichen Hoffnungen und Sorgen.

Weihen Sie auch Ihren Arzt in Ihren neuen Umgang mit den Schmerzen ein. Es wird ihm viel leichter fallen, eine passende, wirksame Behandlung zu finden, die Ihnen hilft, den Schmerz nicht immer, aber immer öfter aus den Augen zu verlieren.