Lernen bis kurz vor dem Tod

Hirnforschung

Er ist einer der meistzitierten Professoren für Neurowissenschaft, er hat gegen 500 Aufsätze und Bücher geschrieben und er ist überall und nirgendwo. Vor den Toren zur Universität Zürich konnten wir ihn abfangen, zwischen Mensa und Hörsaal mit ihm sprechen.

Sofort überraschte der Neuropsychologe mit einer für Seniorinnen und Senioren grossartigen Botschaft. «Unser Gehirn ist bis 20 Minuten vor dem Tod formbar. Formbar durch Lernen. Lernen verändert die Synapsen, und Lernen verändert die Netzwerke im Gehirn. Plastizität nennt sich diese Eigenschaft des Gehirns, sich an äussere Einflüsse anzupassen.» Und lieferte gleich die neuste Anti-Aging-Strategie, bestehend aus drei Säulen: «Seien Sie sozial aktiv bis ins hohe Alter, seien Sie körperlich aktiv bis ins hohe Alter und seien Sie kognitiv aktiv bis ins hohe Alter. Punkt drei ist neu. Er widerspricht all jenen, die bisher behauptet haben, ab 50 wird man immer blöder.»

Neue Nervenverbindungen

Also nichts mehr mit dem alten Eisen, zu dem die reiferen Generationen gerne geworfen werden? Vorbei mit der Vorstellung, das Gehirn sei eine Art erratischer Block, der bei der Geburt schon fertig gebaut ist und spätestens ab dem 30. Lebensjahr nur noch eine Richtung kennt, nämlich Abbau? Prof. Jäncke: «Heute weiss man, dass sich das Gehirn in jeder Minute an die äusseren Bedingungen anpasst, also immer wieder neue Nervenverbindungen herstellen kann, wenn es dazu ermuntert wird. Bedingung ist, dass es gesund bleibt. Medizinisch gesehen geht es zuerst einmal um den Blutdruck. Das Gehirn mag keinen zu hohen Blutdruck. Und es mag weder zu hohen noch zu tiefen Zucker. Das Gehirn kann selber keine Zuckerreserven bilden, muss also in jedem Moment im richtigen Ausmass damit versorgt sein. Mehr als zwei Drittel des ganzen Zuckerkonsums im Körper gehen auf das Konto des Gehirns. Und das, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichtes ausmacht.»

Eine Stunde pro Tag volle Konzentration

Doch das sind nur die Voraussetzungen. Ob ein Gehirn fit bleibt, hängt neben medizinischen Faktoren auch von etwas anderem ab. Prof. Lutz Jäncke: «Das Schlimmste für das Hirn ist, wenn es nichts zu tun hat, wenn es über Jahre hinweg nicht gefordert wird. Gefordert wird es dann, wenn man mindestens eine Stunde pro Tag etwas tut, das einem Konzentration abverlangt. Sudoku statt Kreuzworträtsel. Nicht Abfragen von Gelerntem, sondern Lösen von neuen Aufgaben. Sich mit Problemstellungen konfrontieren, die es vorher nicht gab. Das Gehirn arbeiten lassen, bis es müde wird. Der Frontalkortex ist der Schlüssel, also der vordere Teil des Gehirns, der gleich hinter der Stirn liegt und 40 Prozent der gesamten Hirnmasse ausmacht. Hier werden durch Lernen neue Verbindungen aufgebaut. Ganz nach der Metapher ‹use it or lose it›. Oder anders herum: Was man nicht benutzt, geht kaputt.»

Wie ein Gewitter

In unserem Gehirn agiert die galaktisch gros­se Anzahl der Nervenzellen wie ein dynamisch sich entladendes Gewitter, das sich in Wellenbewegungen über das Gehirn ausbreitet. Dieses Netzwerk besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede einzelne mindestens 10 000 Verbindungen zu ihresgleichen eingegangen ist und immer wieder neu eingeht. Aber eben: «Dieses Netzwerk fällt einem nicht vor die Füs­se, man bekommt es nicht einfach geschenkt. Es baut sich von Minute zu Minute auf, wenn man es fordert. Es passt sich an die Umwelt an, wenn man sich in der Umwelt auf neuen Pfaden bewegt. Es verändert sich anatomisch und physiologisch in jedem Moment des Daseins, wenn die richtigen Reize einwirken.»

Selbstdisziplin ist der Schlüssel

Und welches sind die richtigen Reize? Prof. Jäncke: «Selbstdisziplin ist ein wesentlicher Schlüssel für ein leistungsfähiges Gehirn im Alter. Es geht darum, innere Widerstände zu überwinden. Sobald wir uns zum Beispiel entscheiden, Sport zu treiben, obwohl wir eigentlich lieber auf dem Sofa liegen und lesen würden, passiert etwas Entscheidendes im Frontalkortex. Die Überwindung der inneren Widerstände aktiviert ihn. Die Synapsen der Nervenzellen feuern ab diesem Moment Signale ab, bauen neue Verbindungen auf und verstärken bestehende. Natürlich bringt der anschliessende Sport auch eine bessere Durchblutung des gesamten Körpers. Aber nur zehn Prozent der sich verändernden Gehirnleistung im Alter kann mit dem Argument der besseren oder schlechteren Durchblutung erklärt werden. Der alles entscheidende Faktor ist die Aktivierung des Frontalkortex. Er allein schafft es, die Kontrolle über unser Denken, Handeln, unsere Gefühle und unsere Lust zu haben.» Eine Studie aus Japan sei aus dieser Sicht lange Zeit komplett falsch interpretiert worden. Viele Japaner seien nicht deshalb geistig so fit, weil sie bis ins hohe Alter Fisch essen, sondern weil sie bis ins hohe Alter ein selbstbestimmtes Leben führen, selber kochen, den Haushalt machen und ihr Leben im eigenen Zuhause aktiv bewerkstelligen. Deprivation, also die Einlieferung in ein Heim, die einem Entzug von Aufgaben, dem Verlust von Vertrautem, dem Gefühl der Isolation gleichkommt, sei überhaupt nicht gut für das Gehirn der älteren Menschen. Und es wirke sich unmittelbar auf ihre geistigen Fähigkeiten aus.

Der gefährliche Traum von Ferien

Das Leben nach der Pensionierung müsse darum rechtzeitig geplant werden. «Das Schlimmste für unser Gehirn ist es, nach der Rente nichts Sinnvolles zu tun. Alle träumen zwar davon, ab 65 nur noch zu geniessen und Ferien zu machen. Doch wenn sie das tun, haben sie nichts vom Alter. Ruhe, Entspannung und Kontemplation sind zwar wichtig und sollten genossen werden, aber eben nicht ständig. Ohne geistige Herausforderung geht das Gehirn zugrunde.» Warum sind Kinderhirne trotzdem plastischer als Seniorenhirne? «Ganz einfach ausgedrückt: Kinderhirne fangen als Tabula rasa an. Da ist noch nichts drin. Und wenn nichts drin ist, kann das Gehirn konkurrenzlos lernen. Das ist einfacher. Je älter wir werden, desto mehr können bereits gelernte Dinge beim Lernen von neuen Sachen stören. Eine zweite Sprache muss sich zum Beispiel gegen die erstgelernte durchsetzen, denn die erste Sprache mag die zweite überhaupt nicht. Anders gesagt: Je unvoreingenommener das Hirn ist, desto leichter nimmt es die neuen Dinge auf.»

Übung und Erfahrung kompensieren Alterseffekte

Welche Rolle spielt die Erfahrung im Alter? Kann sie negative Alterseffekte kompensieren? «Auf jeden Fall. Die neurophysiologischen Prozesse können durch Übung und Erfahrung nämlich effizienter werden. Mit der Zeit schaffen es diese optimierten Netzwerke mit weniger neuronaler Aktivität und weniger neuronaler Ressource mehr zu leisten. Zweitens arbeiten die bestehenden Hirnzellen in den Netzwerken besser zusammen, weil sie über immer mehr Verbindungen verknüpft sind. Und drittens können – wie wir gesehen haben – auch bei älteren Menschen ein Leben lang neue Nervenverbindungen geknüpft werden. Wer sie nutzt, wird bis an sein Lebensende geistig glücklich und zufrieden sein.»