In der Schweiz leben 145 000 demenzkranke Menschen, jährlich kommen rund 31 000 hinzu. Das sind aktuelle Daten aus dem Jahr 2020. Erste Anzeichen werden bei bis zu 80 Prozent der Fälle nicht erkannt. Die Hälfte der Patienten, bei denen eine leichte kognitive Einschränkung diagnostiziert wird, entwickeln innerhalb von fünf Jahren eine Alzheimer-Demenz. Jetzt gibt es eine neue klinisch erprobte Energiequelle für das Gehirn. Prof. Dr. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor Universitäre Altersmedizin Felix Platter, Klinische Professur für Geriatrie Universität Basel, über seine Erfahrungen mit der Ketonkörpertherapie.
Wie viele Menschen leiden an leichten kognitiven Störungen oder medizinisch an Mild Cognitive Impairment, MCI, in der Schweiz?
Es gibt dazu in der Schweiz keine genauen Zahlen, da keine Register geführt werden. Ich kann deshalb nur eine grobe Schätzung machen, die wohl irgendwo zwischen 40 000 und 60 000 betroffenen Menschen liegt.
Wo geht MCI über die normalen Begleiterscheinungen des Älterwerdens wie nachlassendes Gedächtnis hinaus?
Die leichte kognitive Störung, MCI, ist eine Beeinträchtigung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Denkvermögen, die ohne wesentliche Alltagseinschränkungen deutlich unter der für die jeweilige Alters- und Bildungsstufe angepassten Leistungsnorm liegt. MCI kann das Vorstadium einer Demenz sein. Anders gesagt, die Hirnleistung ist verglichen mit der Norm klar schlechter, aber – im Gegensatz zu einer Demenz – noch ohne wesentliche Einschränkungen im Alltag.
Wie können die leichten Hirnleistungsstörungen diagnostiziert werden?
Dazu braucht es präzise neuropsychologische Tests der verschiedenen Hirnleistungsbereiche. Zusammen mit anderen medizinischen Untersuchungen wird das am besten bei einem Neurologen, Psychiater oder Geriater oder aber in einer Memory Clinic durchgeführt.
Was verursacht MCI?
Die Ursachen und Mechanismen, die zu einer leichten Hirnleistungsstörung führen, sind vielfältig und werden, wie auch die Demenzerkrankung, immer noch nicht vollends verstanden. Neben Veränderungen in der Nervimpulsübermittlung gibt es auch eine Verschlechterung in der Energieversorgung des Gehirns mit Glukose.
Die Stimulierung der Ketonproduktion soll die Gedächtnisleistung verbessern. Welche Funktion haben Ketonkörper beim Menschen?
Ketonkörper sind spezielle Wirkstoffe, die der Organismus bei Glukosemangel wie Hungern, Fasten, kohlenhydratarme Ernährung, aber auch bei nicht behandeltem Diabetes mit absolutem Insulin-Mangel als Energieersatz in der Leber herstellt. Ketonkörper können neben Glukose als einzige Energiequellen das Hirn mit Energie versorgen.
Trifft es zu, dass Ketonkörper Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Artherosklerose oder Morbus Alzheimer verhindern können?
Für eine effektive Verhinderung der genannten Erkrankungen gibt es keine Daten. Ketonkörper haben eine generell anti-entzündliche Wirkung auf den Körper. Da bei den genannten Erkrankungen entzündliche Prozesse eine wesentliche Rolle spielen, ist es wahrscheinlich, dass Ketonkörper hier eine verlangsamende, möglicherweise aufschiebende Wirkung haben. Im Hirn stellen sie eine zusätzliche Energiequelle zu Glukose dar.
Gibt es Studien, die eine Verbesserung der Gedächtnisleistung durch Ketone belegt?
Ja, allerdings erst wenige. Dabei sah man bei Patienten mit MCI nach sechsmonatiger Einnahme eines ketogenen Drinks signifikante Verbesserungen in den Hirnleistungsbereichen Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Denkgeschwindigkeit und Sprache.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Einfluss von Ketonen auf das Gehirn?
Da diese ketogenen Drinks in der Schweiz erst seit Kurzem auf dem Markt sind, sind meine Erfahrungen bei Patienten noch sehr begrenzt. Es braucht etwas Zeit, bis sich Hirn und Körper auf eine Energieversorgung mittels Ketonkörper umstellen. Deshalb ist es wichtig, eine Ketonkörpertherapie mit tiefer Dosierung zu beginnen und die tägliche Trinklösungsmenge über mehrere Wochen langsam und kontinuierlich zur vollen, wirksamen Dosierung zu erhöhen.