Meine Träume bekommen Flügel

Brigitte Nyfeler

Jahrelange Irrwege, überforderte Ärzte, falsche Diagnosen. Nur durch Zufall ist Brigitte Nyfeler, 43, aus Port BE ihrer Krankheit seinerzeit auf die Schliche gekommen. Dank einem aufmerksamen Physiotherapeuten und wegen eines Bluttests. Obwohl sie unerträgliche Schmerzen im Rücken hatte, obwohl sie kaum mehr aufrecht stehen konnte: Immer wieder hatte ihr der Hausarzt bescheinigt, der Rücken sei gesund. Selbst dann noch, als die Magnetresonanz-Untersuchung nur noch Reste der Lendenmuskulatur erkennen liess.

Dem Energiestoffwechsel fehlt ein wichtiges Enzym

Nach einer schier unendlichen Odyssee erhielt sie endlich eine Diagnose. Doch die war niederschmetternd: Morbus Pompe, eine Stoffwechselkrankheit. Äusserst selten. Mit schwerwiegenden Folgen, denn im Energiestoffwechsel von Brigitte Nyfelers Körper fehlt ein wichtiges Enzym. Jenes Enzym, das die Abfallstoffe aus den Muskeln hinausbefördert. Ohne dieses Enzym erstickt der Muskel irgendwann und stirbt. Beine, Arme, Rücken, Lunge sind betroffen. Nur das Herz nicht. Doch was nützt ein schlagendes Herz, wenn die Lunge keinen Sauerstoff mehr in den Körper bringt? Nur zwei Dutzend Menschen in der Schweiz leiden an Morbus Pompe. Das Gute: Es gibt ein Medikament. Je früher man es verabreicht, desto besser. Das Schwierige: Es ist teuer, sehr sogar. Damit Brigitte Nyfeler es bekommt, muss sie harte Auflagen ihrer Krankenkasse erfüllen, immer wieder Tests absolvieren, zeigen, dass das Medikament bei ihr immer noch nützt. Ja, es nützt. Gott sei Dank. Seit Therapiebeginn geht es Brigitte Nyfeler viel besser. Ohne die Medikamente wäre sie ein Pflegefall. Ans Bett gebunden, künstlich beatmet. Vielleicht nicht mehr am Leben.

Das Problem vieler Morbus-Pompe-Pa­tienten: Bis zur Diagnose geht meist viel Zeit verloren. Die Ärzte erkennen die Symptome nicht, ordnen sie falschen Krankheiten zu. Logisch, bei derart wenigen Fällen fehlt die Erfahrung. Auch bei Brigitte Nyfeler hatte die Krankheit schon vor der Diagnose längst zugeschlagen. «In der Nacht konnte ich nur noch gebeugt auf die Toilette gehen. Die Kraft, mich aufzurichten, fehlte. Zweifel, Schuldgefühle und Ängste begannen mich besonders in solchen Momenten zu plagen. Dann, wenn ich ganz mit mir alleine war. Wenn die Fragen zu bohren begannen und die Leere fehlender Antworten mich zu er­drücken schien. Wie würde ich die Erziehung meiner Kinder bewerkstelligen. Wie sollte ich ihnen helfen als tröstende Mutter, wenn eines stürzt und sich die Knie aufschürft? Wie würde ich meinem Mann gerecht werden? Wie mir selber? Ich lag stundenlang wach. Erinnerte mich an frühere Jahre, die noch gar nicht so weit zurücklagen. Kerngesund. Im Schulturnen immer bei den Besten. Im Handball erfolgreich, in der Lehre zentnerweise Mehlsäcke geschleppt. Schwere Motorräder gesteuert und nun? Mit 28 Jahren alles vorbei? Die Gedanken kreisten.» Und sie kreisen auch heute noch. Nagen in ihr und an ihr. Die Angst, das Medikament werde eines Tages von der Kasse nicht mehr bezahlt. Die Unsicherheit, die am seidenen Faden der Tests hängt. Das Gefühl, abhängig und aufgeschmissen zu sein.

Bilder bringen Gefühle auf Papier

Sie solle ihre Gefühle nicht in sich hineinfressen, sondern sie in Form von Bildern zu Papier bringen. Das hatte ihr eine Freundin geraten. «Ich wusste gar nicht, dass ich malen kann, aber ich wagte es und mein Pinsel wurde wie von Geisterhand geführt, brachte Dinge auf die Leinwand, von denen ich vorher nicht zu träumen gewagt hatte. Meine Wünsche bekamen Flügel, meine Gedanken verfestigten sich. Bäume begannen zu leben, Bäche zu sprudeln, Bergspitzen in der Sonne zu glühen. Ich male alle meine Sehnsüchte in die Bilder hinein. Und in jedem einzelnen Bild bin ich gedanklich verankert. Entweder sitze ich unsichtbar auf einem Stein, stehe auf einer Brücke, springe über einen Bach oder klettere einen Felsen hinauf. Und immer trägt mich die Zuversicht des Wassers. Wasser, das fliesst. Wasser, das keine Grenzen kennt.»

Ihre Bilder haben therapeutischen Wert und sind gleichzeitig Spiegel ihrer Seele. Über die Bilder in frühere Welten reisen. Dank ihnen der Krankheit gedanklich entkommen. Dinge tun, die heute nicht mehr möglich sind. Bergtouren statt Atemnot, Bauchgefühl statt Rückenschmerzen. Über Bäche springen statt mit dem Rollator spazieren gehen. Nur für einen Moment, denn Morbus Pompe ist allgegenwärtig. Trotzdem ist Brigitte Nyfeler dankbar: Ohne Therapie wäre sie nicht so mobil und leistungsstark. «Meine Medikamente geben mir die Sicherheit, im Alltag bestehen zu können. Und sie geben mir Hoffnung, zu überleben. Hoffnung ist das, was mich durch jeden Tag trägt. Und Hoffnung heisst deshalb auch eines meiner wichtigsten Bilder. Es ist für mich wie eine Batterie, die ich in guten Momenten selber lade mit allem, was ich an Kraft und Lebensfreude habe, um sie dann bei Bedarf wieder anzapfen zu können. In dieser Analogie empfinde ich auch mein Medikament als riesengrosses Bild, das mir alle zwei Wochen via Infusion Energie spendet und meinem Leben eine Perspektive gibt.» Jene Perspektive, an der das Wohl der ganzen Familie hängt.